Bei der Lektüre des Telepolis-Forums gewinnt man immer mehr den Eindruck, daß sich die Gräber des Kalten Krieges wieder geöffnet haben.
Hier torkelt ein halb verwester Antikommunismus aus der Zeit herum, wo man noch Pakete mit Bohnenkaffee in die Ostzone schickte. Unwillkürlich glaubt man, den Mundgeruch von Gerhard Löwenthal aus dem ZDF-Magazin der 1970er Jahre in der Nase zu haben.
Angeblich hätten die Räte der Novemberrevolution Enteignungen und die Einführung des Kommunismus geplant. Und die SPD-Regierung hätte Recht gehabt, wenn sie die Räte mit äußerster Gewalt auseinandertrieb. Das erinnert an das Wahlplakat der CDU aus den 1950er Jahren, wo es hieß, daß alle Wege des Sozialismus nach Moskau führen.
Die These, daß es 1918/19 um die Alternative zwischen parlamentarischer Demokratie und bolschwistischer Diktatur ging, stammt aus den frühen 1950er Jahren und war lange Zeit geltende Lehre in der Geschichtswissenschaft. Jeder Examenskandidat war gut beraten, sich an diese These des Großhistorikers und Handbuchautors Karl Dietrich Erdmann zu halten.
Aber schon in den 1960er Jahren haben sich einige - vornehmlich sozialdemokratische - Historiker die Mühe gemacht, die Dokumente der Räte mal selbst in die Hand zu nehmen. Und das Ergebnis war, daß die Räte alles andere als kommunistisch beeinflußt waren.
Sondern ganz überwiegend waren die Mitglieder der Arbeiter- und Soldatenräte Mehrheitssozialdemokraten. Brave SPD-Parteisoldaten, die sich allerdings nicht im Traum vorstellen konnten, daß ihre eigene Führung, nämlich Ebert und Noske, konterrevolutionäre Freikorps gegen sie in Stellung bringen würden.
USPD-Mitglieder waren in der Minderheit und die Spartakus-Gruppe um Luxemburg und Liebknecht hat nie nennenswerten Einfluß auf die Räte gewinnen können. Das konnte auch nicht sein, weil beide erst im Oktober bzw. November aus dem Gefängnis kamen. Als Rosa Luxemburg am 9. November entlassen wurde, da hatte sie gerade mal noch acht Wochen zu leben.
Die Räte wollten nicht den Sozialismus ("jedenfalls nicht sofort", schrieb Sebastian Haffner). Sondern sie wollten zunächst und vor allem den geordneten Übergang von der Militärdiktatur unter Hindenburg und Ludendorff in eine demokratische Republik, in der auch Arbeiter einen Platz als vollberechtigt anerkannte Mitglieder der Gesellschaft einnehmen würden.
Die Räte waren deshalb durchaus nicht gegen die parlamentarische Demokratie. Im Gegenteil. Auf dem Reichsrätekongreß vom 16. Dezember 1918 beschlossen die Versammelten - überwiegend MSPDler - den Wahltermin für die Wahlen zur Nationalversammlung vorzuverlegen, so wie es Ebert wünschte. Und sie lehnten einen Antrag der USPD ab, sich selbst zur obersten legislativen und exekutiven Gewalt im Reich auszurufen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Reichsr%C3%A4tekongress
Die Räte waren alles andere als bolschewistische Kampforgane. Aber allein durch ihre Existenz, und dadurch daß sie es wagten, die Autorität der wilhelminischen Obrigkeit in Frage zu stellen, zogen sie den Haß von Offizieren und Bürgertum auf sich. Und in ihrer Naivität erkannten sie zu spät, daß auch ihre eigene SPD-Führung mit Ebert an der Spitze bereit war, sie zusammenschießen zu lassen.
Fragt sich, warum sich ein mumifizierter Antikommunismus heute, 30 Jahre nach dem Ende des "real existierenden Sozialismus" immer noch fortschleppt und sogar stärker zu werden scheint. Heute, wo der Sozialismus in freier Wildbahn kaum noch anzutreffen ist. Und es ist ja nicht nur der Telepolis-Mob, sondern sogar der gewesene Verfassungsschutz-Präsident halluzinierte "linksradikale Kräfte in der SPD".
Es ist wie ein Gestank von Halbverdautem, Halbverfaultem, der aus manchen Forumsbeiträgen hier aufsteigt. Keine Ahnung, was man gegen diese Zombie-Apokalypse tun kann.