... über Suizide die Medien auffällig wenig berichten. Die Dunkelziffer ist enorm, die Aufklärungsrate (zumindest bezüglich des Tatmotives) praktisch nicht vorhanden. Aus rein kriminologischer Sicht ist ein Selbstmord gleich einem Mord: es gibt ein Tatwerkzeug, es gibt ein Tatmotiv und sogar einen Mörder und ein Opfer. Letztere sind im Spezialfalle "Selbstmord" eben ein- und dieselbe Person.
Warum bringt sich jemand um? Es gibt Leute, die behaupten von Selbstmördern, dass sie zu feige gewesen sind, sich dem Leben zu stellen. Mich stellt diese augenscheinlich erschöpfende Antwort nicht zufrieden. Auch religiöse Tabus interessieren mich nicht. Die wirklich wichtigen Fragen werden gar nicht gestellt, die passenden Antworten nicht gesucht. Dabei könnten diese Antworten durchaus helfen, zukünftigen Lebensmüden eine neue Perspektive aufzuzeigen, damit sie vom Selbstmordgedanken davon kommen.
Abgesehen von einfach krankhaften psychologischen Störungen gibt's mE nach auch noch "Verzweiflung" bzw. die (vermeintliche) Gewissheit, sich nicht mehr anders helfen zu können. Die langjährige Ehe steht vor dem Aus, man steht vor dem persönlichen Ruin. Jemand wird jahrelang gemobbt und will nicht mehr. Die zehrende Krebserkrankung und die abgezählten Tage rauben jeden Lebensmut, wenn man gehen muss, dann wenigstens aus eigenen Stücken. Oder es ist schlichtweg die völlige Perspektivlosigkeit, keie Hilfe, kein Verständnis, aber jeden Tag ein bisschen mehr "niederdrücken" durch überhöhte Erwartungen. Es gibt eine ganze Menge Dinge, die das Leben aus Sicht des Betroffenen so unlebenswert machen, dass sie den Freitod vorziehen.
Aus "Langeweile" bringt sich niemand um.
Die "verlorene Generation" in Italien hat eine Entsprechung in Griechenland, in Portugal, in Spanien, in Frankreich. Überall dort, wo die Jugendarbeitslosigkeit nach oben geschnellt ist, leben potentielle Suizidgefährdete. Wer mit Anfang 20 keine Ausbildung hat, hat sie auch mit Anfang 30 nicht. Wer sich die erste Dekade seines Berufslebens mit Gelegenheitssjobs und Arbeitslosigkeit rumgeschlagen hat, wird auch die restliche Erwerbsfähigkeitszeit ähnlich verbringen. Wer vor solchen Perspektiven steht (vulgo: keine), wem kann man es verübeln, wenn er die Flucht ergreift? Mancher haut aus seinem Land ab und will es anderswo versuchen. Und andere sehen darin keine Möglichkeit, wollen nicht gehen, können aber auch nicht so weiterleben - und wählen die "Flucht aus dem Leben".
Der Mann, der vor senem Suizid den Abschiedsbrief geschrieben hat, gehört zu meiner Generation der in den 80ern geborenen. Auch wenn mein beruflicher Werdegang ungleich positiver ausschaut, fühle ich mich ihm doch verbunden. Gerade was die Belastung unserer Generation anbelangt: die Sause unserer Eltern und Großeltern (insbes. die der 68er) dürfen wir mit Zins und Zinseszins zurückzahlen. Unsere Gürtel sind so eng geschnallt, dass die Wahl nicht mehr "Haus und Kinder" lautet, sondern "Altersvorsorge ODER Kinder". Wir dürfen nicht nur länger arbeiten, sondern auch "flexibler" (vulgo: auch im Feierabend erreichbar), wir müssen bis 67 (69, 75 ?) arbeiten und bekommen weit weniger staatliche Rente. Vergleiche ich den Lebensstandard meiner Eltern zu der Zeit, als sie mein heutiges Alter hatten (da war grad die DDR untergegangen plus 2, 3 Jahre), dann kann ich nur etwa den Standard Anfang 90er halten. OHNE Vorbelastung durch die DDR, wohlbemerkt.
Und das ist, wohlgemerkt, Jammern auf hohem Niveau: ich kann meine Rechnungen bezahlen und sogar noch 100, 200 Euro sparen jeden Monat. Der Italiener dürfte das weitaus schlechter gehabt haben, die Griechen, Spanier, die Franzosen, ja sogar die Briten, die zu arm zum Heizen im Winter sind, sind wesentlich übler dran. Sie gehören genauso zu meiner Generation der "Verarschten" - lediglich der Grad des Verarschtwerdens unterscheidet sich. Für manchen ist da wohl irgendwann der Suizid die einzige Möglichkeit, nicht mehr verarscht zu werden.