Den Ausdruck »Neigung« für Gewalt gegen Kinder halte ich für überaus beschönigend, denn er klingt sehr verharmlosend. Die Ursache für solche Handlungen sind aber nicht irgendwelche harmlosen Neigungen, sondern schwere psychische Fehlentwicklungen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Zwar ist es seit dem 2. November 2000 in Deutschland verboten, Kinder auf jedwede Art zu mißhandeln oder zu quälen, doch hält das Menschen mit entsprechenden schweren Fehlentwicklungen nicht davon ab, es dennoch zu tun.
Meiner Überzeugung nach darf es bei dieser Thematik nicht nur darum gehen, schwerste sexuelle Übergriffe und Gewalttaten wie den im Artikel beschriebenen Mißbrauchsfällen vorzubeugen, sondern den Umgang mit Kindern insgesamt zu beleuchten. Strafandrohungen sind in diesem Zusammenhang, wie auch im Artikel zu lesen ist, vollkommen wirkungslos.
Wir leben nicht nur, wie ich schon häufig betont habe, in einer narzißtischen Gesellschaft. Wer sich wie ich seit gut 20 Jahren mit Narzißmus, seinen Ursachen und gesellschaftlichen Folgen intensiv befaßt, der weiß, daß ein entfremdeter Mensch mehr oder weniger starke Gefühls-Defizite aufweist. Das Ausmaß der Entfremdung von der eigenen Gefühlswelt ist sehr stark davon abhängig, wieviel vom eigenen, gerade in der Entwicklung befindlichen Selbst ein Mensch damals als Kind abspalten und fortan unter Verschluß halten mußte. Das betrifft in der einen oder anderen Form und in unterschiedlichem Ausmaß nahezu alle Mitglieder unserer Gesellschaft.
Der erste Gewaltakt ist der erzwungene Verrat am eigenen Selbst. Bereits Neugeborene spüren instinktiv, ob sie von der Mutter gewollt sind, ob sie von ihr so angenommen werden, wie sie sind, oder ob Teile ihres So-Seins abgelehnt werden. Im weiteren Verlauf ihrer Entwicklung erfahren Babies und Kleinkinder zahlreiche »Korrekturen« ihres allgemeinen Ausdrucks, der sie dazu bringt, gewisse unerwünschte Äußerungen zu unterlassen, um nicht den Ärger der Mutter und anderer Bezugspersonen heraufzubeschwören und damit deren Zuwendung zu riskieren.
Nun verfügt aber ein Säugling oder ein Kleinkind noch nicht über eine funktionierende Selbstregulierung; seine Äußerungen speisen sich aus seinen natürlichen Affekten und Bedürfnissen, letztlich aus empfundenem Wohl- oder Unwohlsein. Der Grad der Empathiefähigkeit der Mutter bzw. der Bezugspersonen des Kindes entscheidet darüber, wie sehr diese Menschen in der Lage sind, auf das Kind, auf seine Bedürfnisse einzugehen. Noch immer herrscht in unserer Gesellschaft die Vorstellung, man dürfe nicht auf alle Bedürfnisse von Kindern eingehen, weil man sie sonst verweichliche oder verziehe. Man müsse sie gewissen Regeln unterwerfen, die bei genauerer Betrachtung mehr den Fehlentwicklungen der Erwachsenen entgegenkommen als den natürlichen Bedürfnissen des Kindes. Kinder müssen sich der Lebensweise, den gesellschaftlichen Umständen und den allgemeinen Vorstellungen anpassen, sonst gelten sie als schwer erziehbar und würden damit den Unmut ihrer Eltern und sonstigen Erzieher »provozieren«, was dann meist in Sanktionen – eine kaum beachtete Form von Gewalt – seinen Ausdruck findet.
Tatsächlich verbietet das oben erwähnte Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung und zur Änderung des Kindesunterhaltsrechts (1) jedwede Form von Gewalt, insbesondere auch seelische Gewalt, von der ich eben schrieb. Der betreffende Gesetzestext lautet:
§ 1631, Absatz 2 wird wie folgt gefasst:
Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.
Beim Thema körperlicher Gewalt ist die Definition ziemlich einfach: kein Schlagen, keine körperlichen Beeinträchtigungen, auch keine Androhung von Prügel oder Ohrfeigen, kein schmerzhaftes Zerren am Kind, kein Umstoßen, Zwicken, Schütteln usw.
Doch was ist unter seelischer Gewalt zu verstehen? Darüber sind sich die Leute nur selten einig, weil sie erstens unterschiedliche Schmerzschwellen entwickelt haben und weil sie zweitens selbst mehr oder weniger gefühlsreduziert und empathiebefreit sind und ihr Selbstbild und Selbstverständnis daher eine gewisse Unempfindlichkeit beinhaltet. Der Begriff »sensibel« ist meist negativ konnotiert und deutet Schwäche an, und die ist in unserer Gesellschaft verpönt; ihr Ausdruck wird gewöhnlich strikt vermieden, niemand möchte ein Weichei, ein Waschlappen, Warmduscher etc. sein.
Unsere Vorstellung davon, was als geistig gesund gilt, ist daher meiner Ansicht nach schon eine verzerrte. Wir werden von Kindheit an dazu erzogen – sprich: konditioniert –, unerwünschte Gefühle zu unterdrücken, was letztendlich dazu führt, daß wir sie abspalten und fortan erst gar nicht mehr wahrnehmen. Das führt, so seltsam es auch klingen mag, zu einem unbewußten Selbsthaß: Wir hassen uns für den Verrat an uns selber, wir verachten uns dafür, daß wir einen Teil von uns aufgegeben und weggesperrt haben, um äußere Konflikte zu vermeiden, um uns einer Gesellschaft anzupassen, die uns im Grunde nicht wirklich paßt.
Aus dieser Gefühlsunterdrückung entwickelt sich der Gehorsam: die meist kaum bewußt wahrgenommene Bereitschaft, den eigenen Willen zu unterdrücken und sich einem anderen Willen zu unterwerfen. Angestellte tun das jeden Tag, wenn sie zur Arbeit gehen, wo sie fremdbestimmt Tätigkeiten ausführen müssen, um sich ihr Recht auf Leben zu verdienen.
In dem Ausmaß, in welchem das eigene Selbst verlorengeht – die eigenen Mitgefühle und die Verantwortung für sie verschwinden –, wird ein Mensch rachsüchtig, ohne sich dessen wirklich bewußt werden zu können. Die Aggression ist eine Reaktion auf die Verminderung der eigenen Autonomie, selbst noch in den Fällen, in denen ein Mensch sich gegen diesen Verlust wehren möchte. Es wiederholt sich die ganze eigene Entwicklung: Die Unterdrückung der Rezeptionen und Gefühle der Kinder führt zu einem Gehorsam, der die hervorgerufene Aggression verdeckt, sie gleichzeitig aber auch steigert. Die Wut ist gegen das eigene Leiden und die eigene Lebendigkeit gerichtet, denn sie sind es, die offensichtlich die Willkür und Unterdrückung seitens der Eltern hervorriefen. Das bewirkt die erste Spaltung im eigenen Sein: die eigene Zurückweisung dessen, was zum Anhaltspunkt der eigenen autonomen Entwicklung hätte führen können, nämlich die eigene Lebendigkeit. Und obwohl man selbst zum Werkzeug der eigenen Unterdrückung gemacht wurde, bedeutet das nicht, daß der Haß gegen das eigene Sein sich etwa verminderte. Im Gegenteil, es ist ein anhaltender Spaltungs-Prozeß, der durch die gesellschaftlichen Normen gefördert wird.
Arno Gruen: Der Verrat am Selbst
Nach Arno Gruen liegt die Quelle unserer Aggression und Destruktivität in der Kultur, nicht im einzelnen Menschen. Demnach ist alles, was unsere innere Spaltung fördert und uns den Zugang zu unserem Inneren verschließt, ein Teil dessen, was unsere zerstörerischen Triebe erzeugt und vermehrt. Wie schon Erich Fromm betonte, sind die wahren Geschädigten nicht die seelisch Erkrankten, die als psychiatrische Patienten von der Gesellschaft gemieden werden, sondern diejenigen, die uns ein reduziertes Menschsein suggerieren wollen. Die erwähnten psychisch Kranken weisen uns unbewußt den Weg zu uns selbst zurück, wogegen die anderen diesen Weg mit ihren pseudo-einleuchtenden und pseudo-entlastenden theoretischen Gebilden versperren. (2)
Kaum jemand erkennt die heftige Dynamik, die immer wieder dazu führt, daß aus einstigen Opfern Täter werden. Es gibt in unserer Gesellschaft so gut wie kein Bewußtsein dafür. Menschen, denen in ihrer Kindheit quasi die Seele aus dem Leib geprügelt wurde, neigen als Erwachsene gewöhnlich ebenso zu Gewalthandlungen, sei es auch »nur« seelische Gewalt, die sie ihren Kindern und sontigen Mitmenschen antun.
Kaum jemand ist bereit, in sich selbst hineinzuhören und zu erforschen, wo die eigenen seelischen Unzulänglichkeiten liegen:
Wo bin ich selbst gewaltbereit?
Wo leugne ich eigene Bedürfnisse?
Wo verweigere ich mich dem Verständnis?
Wo negiere ich Empathie oder auch nur Freundlichkeit?
Wo suche ich andere dafür zu bestrafen, daß sie in mir unterdrückte Gefühle triggern?
Diese ganze Problematik ist ein sehr weites Welt, mit dem man sich ernsthaft und ausdauernd befassen sollte. Mit Gesetzen und Strafandrohungen ist hier kein Blumentopf zu gewinnen. Die Täter befinden sich bereits tief in einem Zuckerbrot-und-Peitsche-Kontinuum, das schreckt sie nicht wirklich ab, sie kennen gewöhnlich gar nichts anderes und rechtfertigen damit teilweise ihre Handlungen.
Auch wenn das Folgende kaum jemand für sich bejahen wird, bin ich davon überzeugt, daß die meisten Eltern ihre Kinder insgeheim noch immer als ihr Eigentum empfinden. Auf »Einmischung« in ihre Erziehungsmethoden reagieren die meisten Eltern oder Elternteile nämlich gerade so, als wollte man ihnen etwas wegnehmen: »Das sind meine Kinder, das geht Sie nichts an!« Eine ähnliche Reaktion löst bei vielen die kritische Beleuchtung des Themas Fernsehen aus: Sie glauben nicht, daß sie beim Fernsehen in eine mehr oder weniger tiefe Trance geraten und dadurch sehr leicht zu manipulieren sind; sie reagieren so, als wolle man ihnen z.B. die samstägliche Sportschau vergällen (von der die Sportschau-Gucker gewöhnlich so abhängig sind wie die Konsumenten der zahlreichen TV-Soaps oder auch die Porno-Konsumenten vom täglichen Digital-Wichs). Bei der Verteidigung ihrer Fernsehgewohnheiten werden diese Leute ebenso schnell laut und aggressiv, wie Eltern, deren Erziehungsmethoden man kritisch betrachtet.
(1) https://tinyurl.com/yd69pog3
(2) https://tinyurl.com/ya9s4keb
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