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  • Zahlen helfen

mehr als 1000 Beiträge seit 03.05.2020

Der Versuch eines Peer Reviews

Ein sehr schöner Beitrag, man wünscht sich mehr von dieser Sorte! Vielleicht liest ja der Hr Wallis auch die Kommentare und versteht meinen als Versuch eines Peer Reviews, der zugegebenermaßen etwas spät nach der Publikation kommt.

(1) Der Vergleich mit der Spanischen Grippe (z.B. Abb. 2) ist zwar immer sehr verlockend, aber bei Lichte betrachtet wenig hilfreich. Damals existierte keinerlei zuverlässige Bevölkerungsstatistik, von einer adäquaten medizinischen Diagnostik ganz zu schweigen. Das hat zwar Medizinhistoriker in der Vergangenheit nicht daran gehindert, ganze Regalmeter mit Abhandlungen über die Spanische Grippe und ihre Todesfälle voll zu schreiben, aber diese Abhandlungen sind, wieder bei Lichte betrachtet, wenig mehr als Spekulation und höchstens educated guesses. Jeder Vergleich wird davon profitieren, dass man alles, was vor dem WK 2 passierte, einfach ignoriert.

(2) Die Diskussion der Ausbreitungsgeschwindigkeit leidet natürlich massiv darunter, dass niemand zuverlässig weiß, wie viele Leute zu welchem Zeitpunkt wirklich infiziert waren. Die Zahl der im PCR-Test Positiven ist wenig mehr als ein unteres Limit, weil es aufgrund der damaligen Teststrategie definitiv ausgeschlossen ist, dass die Gruppe der Getesteten eine im statistischen Sinn saubere Stichprobe der Grundgesamtheit darstellt. Ich sehe nicht, wie man aufgrund dieses fundamentalen Unsicherheit halbwegs zuverlässige Aussagen zur Ausbreitungsgeschwindigkeit treffen könnte.

(3) Damit landen wir automatisch bei der berühmten Dunkelziffer. Im Artikel wird verschiedentlich und auch völlig korrekt auf die Problematik eingegangen, dass auch Seroprävalenzstudien hier wieder nur ein unteres Limit liefern können. Wenn das aber so ist (und so ist es halt), dann sind alle Rechnungen, in denen die Zahl der Infizierten eingeht, Makulatur. Hier muss ich dann meine Hauptkritik am Artikel anbringen, dass sich der Hr Wallis leider ausgiebig in der Unsitte ergeht, Berechnungen mit Werten anzustellen, die halt de facto mehr oder weniger geraten (oder auf neudeutsch "educated guesses") sind. Für jemand, der Zahlen interpretieren kann, wird dies in Sätzen greifbar wie "...so dass die IFR bezogen auf die Gesamtbevölkerung in den USA bei 0,26% mit einem Unsicherheitsbereich von 0,1 bis 2,0% liegen könnte...." oder "...Für nachfolgende Berechnungen wird angenommen..." oder "...Es zeigten sich korrigierte IFR von 0,02-0,78% mit einem Mittelwert von 0,26%. In einer anderen Metaanalyse zeigten sich in den 16 untersuchten serologischen Studien IFR von 0,09-1,15 mit einem Mittelwert von 0,60%....". Im Klartext heißt das: wir wissen, dass wir herzlich wenig wissen, und die angegebenen Zahlen sind nicht mehr als grobe Schätzungen. Ich denke, dies ist ein Faktum, das auch gebührend offen festgestellt werden sollte.

Zur prinzipiellen Frage, ob es auch nur annähernd sinnvoll ist, z.B. einen Wert von 0.26 % auf zwei Nachkommastellen genau anzugeben, wenn dann im Nachsatz kommt "kann auch zwischen 0.02 und 0.78 liegen", wurden auch schon Regalmeter voll geschrieben. Ich habe noch an der Oberstufe Gymnasium sowie im ersten Semester gelernt, dass das nicht der Fall ist. Leider ist es auch in der Fachliteratur geübte Praxis, einen solchen Unfug anzustellen. Da kann der Hr Wallis wenig dafür.

(4) Es ist m.E. eine mehr philosophische Diskussion, ob jemand, der z.B. nicht an COVID-19 verstirbt, sondern daran, dass das Gesundheitssystem wegen COVID-19 zusammengebrochen war und er daher keine adäquate Versorgung bekommen konnte (vgl die Diskussion der Todesfälle mit Demenz im UK). Rein medizinisch gesehen ist so jemand natürlich kein COVID-19-Todesfall. Ich persönlich bin der Ansicht, dass man ihn sehr wohl als solchen zählen sollte, weshalb dann auch die Übersterblichkeit bei all ihrer Problematik am Ende des Tages die beste Maßzahl ist, die wir haben. Sie ist definitiv besser als alle Zahlen, die als COVID-19-Todesfälle veröffentlicht werden. Dies etwas detaillierter auszuführen, wäre sicher nicht schlecht gewesen.

(5) Mehr en passant wird angesprochen, dass es sehr starke regionale Unterschiede in den Übersterblichkeiten gab. Hier würde man sich wünschen, etwas mehr Fleisch am Knochen serviert zu bekommen. Gerade diese starken regionalen Unterschiede sind die besten Argumente, um einigen der beliebtesten "Erklärungsansätze" (wie z.B. "Land xy hat halt ein schlechtes Gesundheitssystem und deshalb sterben so viele an Corona") die Grundlage zu entziehen.

(6) Ebenfalls en passant wird auf die massiven Unterschiede in der Mortalität eingegangen. Dazu werden auch einige Erklärungsansätze beschrieben (z.B. soziale Faktoren), die Sinn machen. Aber man vermisst doch eine Diskussion der Maßnahmen, die gerade in den am stärksten betroffenen Zentren (Bergamo/Lombardei, Madrid, UK Großraum London, New York City/New Jersey) durchgeführt wurden, nämlich die Krankenhäuser damit frei zu machen, indem COVID-19-Erkrankte, die keine Intensiv-Behandlung benötigten, in Alten- und Pflegeheime "ausgelagert" wurden. Mit dieser Aktion hat man natürlich das Virus zielsicher und hoch effizient genau an die am meisten gefährdete Altersgruppe heran gebracht. so dass eine überdurchschnittliche Mortalität in diesen Regionen wenig verwunderlich erscheint.

Ansonsten nochmals herzlichen Dank für den Artikel!

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