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  • pk

mehr als 1000 Beiträge seit 10.10.2000

Das Schisma zwischen Marx und Bakunin

Nachdem ich nunmehr so circa die Hälfte der 44 Bände MEW durchgelesen habe, habe ich glaube ich so langsam in etwa eine grobe Ahnung davon, was damals das Problem war. Es ist so ein bisschen der Konflikt zwischen Herz und Verstand. Bakunin war ein Revolutionär der alten Schule, dessen Patentrezept es war, die Gesellschaft in Richtung eines humanen, solidarischen, freiheitlichen Ideals auf dem Wege einer Revolution umzukrempeln, und ihn beschäftigte dabei hauptsächlich die Frage, wie sich diese Revolution praktisch umsetzen liesse. Marx dagegen war im Laufe der 40er Jahre völlig vom philosophischen Ansatz weggekommen und hat den Ansatz entwickelt, dass es in der Hauptsache die ökonomischen Verhältnisse sind, die bestimmen, wie Menschen sich gesellschaftlich verhalten (edit: im grossen Massstab! Mönche gibts immer). Diese ökonomischen Verhältnisse lassen sich nun nicht so einfach per Willensakt umwerfen - ganz im Gegenteil, sie zwingen die Menschen dazu, sich ökonomisch "passend" zu verhalten. Deshalb auch die massive Korruption in nominell sozialistischen Staaten wie DDR, Sowjetunion oder Kuba.

Auf der anderen Seite glaubte Marx, einen unauflösbaren inneren Widerspruch im System der Lohnarbeit gefunden zu haben, der im Endeffekt zum Untergang der Lohnarbeit führen würde. Marx entwickelte also die Vorstellung, dass die Werktätigen sich auf diesen Augenblick vorbereiten müssten, um zum richtigen Zeitpunkt den Kapitalisten die Produktionsmittel abzunehmen, zu dem Zweck, die Produktivität - und damit die gesellschaftlichen Verhältnisse, die diese Übernahme erst gestatten - zu erhalten und auf neuer Basis mit neuen Zielen weiterzuentwickeln und allein damit eben diese freie, solidarische, gleichberechtigte Gesellschaft in die Wege zu leiten, die Bakunin im Handstreich möglichst sofort erobern wollte.

Der Streitpunkt ging also nicht darum, ob nach der Revolution eine Diktatur oder eine Anarchie stattfinden sollte, sondern darum, dass Marx den revolutionären Ansatz von Bakunin in den 1860ern als nicht nur sinnlos, sondern kontraproduktiv ansah, während Bakunin weiterhin glaubte, man müsste nur die Macht erobern um anschliessend den Staat verschwinden lassen zu können damit hinterher alles in die richtigen Bahnen gelenkt werden kann.

Richtig übel wurde die Sache dann später in Russland. Ich brauch noch ein paar Jahre um das zu analysieren, aber von dem, was ich bis jetzt gesehen habe, musste Lenin die Ergebnisse von Marx ein wenig beiarbeiten, um den notwendigen Triumph des Bürgertums in Russland zu umgehen und direkt zum Kommunismus überzugehen. Marx hätte das, was Lenin trieb, wahrscheinlich als "Ideologie" verdammt und ihn genau so hart angefasst wie Bakunin.

Spätere anarchistische Ansätze, wie der Anarchosyndikalismus, waren schon der Versuch, die etwas hemdsärmeligeren Methoden Bakunins ein gutes Stück realistischer zu gestalten und Erkenntnisse von Marx mit einzuarbeiten. Allerdings muss man die auch als in der historischen Situation gescheitert betrachten, und das hat nicht den Grund darin, dass sie nicht anarchistisch genug waren oder nicht genug Leute daran geglaubt haben, sondern eben hauptsächlich an den ökonomischen Realitäten des Weltwirtschaftssystems, das dafür sorgte, dass die westlichen bürgerlichen "Demokratien" einen Sieg Francos favorisierten, und die bescheidene Situation der anarchosyndikalistischen Produktionsverhältnisse, die mit dem Ausstoss des kapitalistischen Zwangssystems auf die Dauer auch nicht konkurrieren konnten, wobei es sicher wesentlich angenehmer war, in einer selbstverwalteten Fabrik zu arbeiten als unter der Knute des Kapitals... Stalin hatte wahrscheinlich besser begriffen als Lenin, dass das so mit der kommunistischen Weltrevolution nix wird, und hat sich deshalb grösstenteils aus allen revolutionären Bewegungen rausgehalten oder die aktiv sabotiert und sich in der Sowjetunion darauf beschränkt, eine Art von autoritärer staatskapitalistischer Wirtschaft mit kommunistischer Folklore zu halten um gute alte russische zaristische Imperialpolitik zu machen, bis der Kapitalismus wirklich reif für die Weltrevolution.

Also, mein Stand zur Zeit ist folgender:
- Anarchismus ist ein gut gemeinter Ansatz, wobei eine funktionierende Anarchie aber leider so nur unter ganz konkreten ökonomischen Verhältnissen passieren kann, die so immer noch nicht gegeben sind.
- Marxismus-Leninismus ist eine ideologische Sackgasse die nichts wirklich brauchbares hervorbringen kann.
- Der wissenschaftliche Ansatz von Marx über das Primat der Ökonomie bei der Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse von Homo Sapiens reicht so nicht aus, um eine positive Entwicklung hin zu einer freien, gleichen und solidarischen Weltgesellschaft einzuleiten.

Versuchen sollte man es trotzdem, wenn man glaubt, dass die Menschheit zu etwas Würdigerem fähig ist, weil sonst auf das Lohnsystem nur etwas noch Elenderes folgen kann, aber man muss dabei schon den absoluten Quark bislang gescheiterter Ansätze emotionslos auf den Müllhaufen der Geschichte befördern. Das gilt für die bakunin´sche Anarcho-Nostalgie genau so wie für den marxistisch-leninistischen Irrsinn. Ein guter Ansatzpunkt wäre wahrscheinlich, die Theorie der auf Null sinkenden Profitrate etwas näher unter die Lupe zu nehmen, und anthropologisch das ökonomische BIOS von Homo Sapiens näher zu untersuchen. Was damit nicht kompatibel ist, wird nicht funktionieren oder alles nur noch schlimmer machen. Dummerweise weiss wohl immer noch keiner so genau, was da die Betriebsparameter und die Toleranzen sind. Schimpansen und Orang-Utans sind da wohl jeweils ein bisschen anders konfiguriert.

(Edit: Tippfehler)

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (19.05.2024 15:11).

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