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mehr als 1000 Beiträge seit 10.10.2000

Re: Kurze Antwort ... und vertröstung auf den Sonntag:

Ganz übersehen dass heute Feiertag ist, und Wetter ist etwas mau draussen...

ratwol22 schrieb am 20.05.2024 00:02:

Anarchosyndikalismus ist Hammer! :-)

Es war ein ziemlich ausgeklügelter Ansatz, der zu Zeiten der Industrialisierung mit einer starken, klassenbewussten Arbeiterbewegung dahinter viel erreich hat. Die Mitgliederzahl der CNT Barcelona kriecht heute irgendwo zwischen hohem zweistelligen und niedrigem dreistelligen Bereich herum (bin da nicht mehr auf dem aktuellen Stand), die 1979 abgespaltene CGT ist deutlich erfolgreicher, aber trotzdem eher klein im Vergleich mit CCOO und UGT. Das Kapital hat reichlich erfolgreiche Taktiken entwickelt, um die Gewerkschaftsarbeit der aufmüpfigeren Kleingewerkschaften zu behindern. Es gibt hier und da bescheidene punktuelle Erfolge, und auch die eine oder andere dauerhaftere Betriebsgruppe, als Gruppe mit revolutionärer Zielsetzung bleibt es aber kläglich. Die Dynamik von Anfang des 20. jahrhunderts ist komplett weg.

Meine Lektüre von "Anarchie" des Karin Kramer Verlages legte bei mir die Grundkenntnisse dieser Unterwanderung von Institutionen. Eine effekive Methode - allerdings keine faire Methode.

Karin Kramer Verlag hat viele gute Bücher.

Moral-Normen sind für uns Anarchisten wichtiger, als für andere Bürger in Deutschland: Es existiert kein Gesetz, an das wir uns aus Überzeugung halten wollen (ausgenommen mindestens 1. Art. GG). Das erfordert ein extremes Maß an Selbstdisziplin. Anarchie ist halt auch eine Form von Ordnung - und eben nicht Chaos.

Das ist meiner Meinung nach ein grosses Problem. Basisdemokratie muss mit völlig normalen Menschen funktionieren. Zu denen gehören auch Egoisten, Soziopathen, Kleptomanen, disziplinlose Schluffis, Faulenzer, Langweiler, Antriebsschwache, Hedonisten, Gierhälse, Wichtigtuer, Machtgeile und was es sonst noch so gibt. Was macht die Basisdemokratie, wenn ein Faulpelz Solidarität einfordert, aber nichts an die Gesellschaft zurückgibt? Konsensfindung mit dem Faulpelz? Was passiert, wenn einer anfängt, Ämter anzuhäufen und Wissen zu monopolisieren, weil er wirklich gut auf seinem Posten ist? Klar ist ein imperatives Mandat eine gewisse Sicherung, aber was ist, wenn es einfach für die Mehrheit zu gut läuft, um die Mandatierung zu widerrufen? Die Anarchie kann sich nicht aussuchen, mit wem sie zusammenleben will, da werden alle mit dabei sein. Und dann kommen wir wieder zu den zugrundeliegenden ökonomischen Verhältnissen, die bei anarchistischen Ansätzen in der Regel als durch die Einsetzung der Basisdemokratie gelöst betrachtet werden. Was ist aber, wenn es genau umgekehrt ist? Dass die Machtverhältnisse immer durch die Besitzverhältnisse bestimmt werden? Kropotkin hat sich lang und breit Gedanken über Ethik gemacht und über Solidarität in der Natur um damit nachzuweisen, dass der Mensch von Natur aus fähig wäre. eine solidarische Gesellschaft aufzubauen. Marx dagegen hat sich bemüht nachzuweisen, dass die gesellschaftliche Organisationsform der Entwicklung der Produktionsverhältnisse folgt, dass es also schlicht unmöglich ist, die Produktionsverhältnisse durch Änderung der gesellschaftlichen Organisation umzubauen. Lohnarbeit ist nicht entstanden, weil die Idee der Lohnarbeit sich durchgesetzt hat, sondern weil es einerseits für die Manufakturbesitzer Sinn machte, ihre Manufakturen mit mehr Arbeitskräften zu betreiben, und andererseits jemand dessen Familie hungert weil er keine Einkommensquelle hat, lieber seine brach liegende Arbeitskraft verkauft ohne wirklich von deren Ergebnissen zu profitieren, als zu verhungern. Das politisch-ökonomische Verhältnis zwischen Lohnarbeiter und Lohnherr ist kein gleichberechtigtes - Zwischen beiden kann es wegen des Machtgefälles niemals eine Basisdemokratie geben. Deshalb unter anderem ist der bürgerliche Staat häufig eine repräsentative Demokratie, in der das Volk (oder Teile des Volks) zwischen unterschiedlichen bürgerlichen Parteien wählen darf, die dazu da sind, den Kapitalisten als Klasse optimale Bedingungen für ihr Geschäft zu liefern. Die Lohnempfänger (soweit sie überhaupt Wahlrecht haben) dürfen dabei raten, welche dieser Parteien als Seiteneffekt am Besten ihre Lohnaussichten mitfördert. Meistens werden sie dabei mehr oder weniger, früher oder später, über den Tisch gezogen. Das liegt schlicht daran, dass das Lohnsystem nicht viel Spielraum bei der politischen Organisation zulässt. Man kann also unter Beibehaltung des Lohnsystems nicht viel daran ändern, und das Lohnsystem gewaltsam beenden heisst die ökonomische Lebensgrundlage der Gesellschaft zerstören ohne wirklich einen gleichwertigen Ersatz garantieren zu können - also die Gefahr eines Rückschritts in den Produktionsverhältnissen, was gleichbedeutend mit akuter Gefahr von massenhaftem Hunger und Armut - bzw. Wohlstandsverlust - ist. Es ist nicht irrational, auf diese Aussicht rabiat zu reagieren. Das ist vielleicht ethisch-moralisch nicht den hohen anarchistischen Standards angemessen, erklärt aber recht gut, warum sehr viele Normalmenschen bei dem Vorschlag, jetzt doch bitte eine basisdemokratische Idealgesellschaft einzuführen um mit den kapitalistischen Sauereien Schluss zu machen, reichlich verbiestert reagieren, obwohl sie wahrscheinlich, wenn man sie persönlich kennen würde, leidlich sympathische Zeitgenossen wären.
Die meisten Revolutionen geschehen nicht aufgrund irgendeiner generellen Wilensäusserung, sondern aufgrund von sowieso passierendem Kollaps des bestehenden Systems. Die Pariser Kommune ist nicht entstanden weil die Pariser jetzt die Nase voll hatten vom Kapitalismus, sondern weil der bürgerliche französische Staat nach der Niederlage im Krieg von 1870/71 kollabierte und ein Machtvakuum hinterliess, das die Kommune auf niedrigem Niveau zeitweilig erobern konnte. Die russische Revolution (Februar UND Oktober) geschah, weil das Volk die Schnauze voll hatte von den Folgen des Kriegs des Zaren. Die erste bürgerliche Revolution versäumte es, den Krieg zu beenden, das gab Lenin die Chance zu seinem Putsch. Die Degenerierung der Sowjets zu Organen der Bolschewiki lag wohl unter anderem an dem erwähnten Wegfallen der ökonomischen Grundlagen der alten leibeigenen Dorfgemeinschaften, da spekulier ich jetzt aber. Bin noch zu sehr mit dem 19. Jahrhundert beschäftigt.

Wir wollen Geschichte richtig schreiben - basisdemokratisch!

Basisdemokratie, mit Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ist ein gutes Ideal fürs menschliche Zusammenleben. Es ist allerdings sehr wahrscheinlich, dass der Weg dahin eher ziemlich gewunden ist und nicht in direkter Linie erreicht werden kann. Was Marx dagegen zu bieten hatte, war eher ernüchternd. Wen man genau hinsieht, schält sich heraus, dass das System der Lohnarbeit genau dann kollabieren wird, wenn die erreichbare Profitrate mit Lohnarbeit nicht mehr ausreicht, um die Kapitalisten reich zu halten, und sie deshalb selber aus dem Lohnsystem aussteigen. Künstliche Intelligenz und Robotik, beispielsweise deuten darauf hin dass der Zeitpunkt näher kommt. Allerdings ist dann die Frage, wie die Weltbevölkerung den Kapitalisten die Macht entreisst und die neuen Produktionsmittel zum Gemeinwohl umwidmet.

Ich hoffe das war nicht zu sehr geschwafelt...

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