Um Missverständnissen vorzubeugen:
Ich finde den russischen Angriff auf die Ukraine widerwärtig, moralisch unentschuldbar und Putin gehört dafür abgeurteilt und lebenslänglich in eines seiner Straflager gesteckt.
Im folgenden lege ich die Frage nach dem Wünschenswerten aber komplett beiseite.
Ich tue das, was ich schon mal als "gnadenlose Sachlichkeit" beschrieben gehört habe: Ich halte mich an das, was ich in der Realität sehe.
Über Wünschenswertes kann man sich erst verständigen, wenn man sich über die Realität verständigt hat, sonst bleibt dieses Wünschenswerte ungeerdet und man ist hinterher keinen Deut schlauer, handlungsfähiger oder urteilskräftiger geworden.
Pearphidae schrieb am 12.07.2024 18:49:
Wer hat Ihnen denn DEN Unsinn erzählt?
Die Realität.
Und eine Staatensimulation, an der ich ein paar Jahre lang mal teilgenommen habe.
Das war ziemlich interessant, ich war Vertreter einer von zwei Supermächten und habe eine Menge darüber gelernt, was die Grenzen dieser Macht eigentlich sind.
Eine Lektion:
Trump ist ein Depp, wenn er glaubt, der Präsident der Vereinigten Staaten wäre der Mächtigste auf der Welt.
Die ganzen kleinen und mittleren Staaten können, wenn sie sich zusammentun, so einer Supermacht ganz empfindlich in die Suppe spucken. Also muss die Supermacht höllisch darauf achten, nicht zu viele Kleine und Mittlere allzu nachhaltig zu verärgern, und egal, was sie tut, irgendwer wird immer glauben, ihm stünde mehr Unterstützung zu, während die Gegner jeden tatsächlichen oder eingebildeten Vertragsbruch lauthals beklagen werden, und es gibt dann immer genügend Uninformierte, die das dann glauben und entsprechend die Unterstützung anders lenken.
Im Grunde tut sich in der Realität genau das Gleiche.
Bilaterale Verträge gehen lediglich die unterzeichnenden Staaten etwas an
Außer ein größerer Staat mit Einflussmöglichkeiten sieht seine Interessen bedroht.
Dann wird er diese Einflussmöglichkeiten nutzen, um auf den Vertragstext, die Ratifizierung und die Umsetzung Einfluss zu nehmen.
- sofern deren Bruch nicht auch einen Bruch des Völkerrechts darstellt. DANN ist es eine Angelegenheit für die UNO bzw. den IStGH.
Vorausgesetzt, diese Institutionen werden auch tätig.
Was z.B. bei der UNO nur sehr eingeschränkt der Fall ist. Russland legt ja sein Veto ein, wo es kann.
Der IStGH ist etwas unabhängiger, aber natürlich wird auch der dazu benutzt, besonders missliebige Gegner anzuklagen. Das hat schon seinen Grund, dass die Großmächte den IStGH nicht anerkennen: Sie müssten nicht nur kriegsverbrecherische Soldaten und Offiziere ausliefern, sondern auch Generäle und womöglich sogar Präsidenten.
Ein Gericht kann Recht sprechen, so viel es will: Ohne Durchsetzungsmöglichkeiten bleibt es zahnlos; innerstaatliche Gerichte haben eine Polizei zum Durchsetzen, zwischenstaatliche Gerichte sind auf das Militär bzw. die Drohung mit dem Militär angewiesen, um ihre Verfahren und Richtsprüche durchzusetzen.
Auch das ein Grund, warum der IStGH gegen schwache Staaten Urteile spricht, aber nicht gegen Großmächte. Und wenn es mal doch eine Großmacht trifft, bleiben die Urteile erstmal wirkungslos.
Wenn so ein Gerichtshof mal als moralische Instanz anerkannt ist, erhält er mehr Unterstützung bei der Durchsetzung.
Wobei es um die Moral der Unterstützer geht, nicht um was Universelles. Eine universelle Moral ist in den Grundzügen sehr leicht zu definieren, aber je konkreter es wird, desto unterschiedlicher sind die Meinungen und desto subjektiver wird die Bewertung.
Aber wenn der IStGH langfristig zur verbindlichen Institution werden soll, muss er sehr darauf achten, dass er nicht zu einem reinen Durchsetzungsinstrument von Westinteressen wird.
Und dieser Zusammenhang ist es, der die Unterstützerstaaten oft auch für sie nachteilige Urteile akzeptieren und eben auch unterstützen lässt: Kurzfristige ärgerlich, aber wir wollen eine auf Gesetzen statt Militärgewalt basierende Weltordnung etablieren, und dafür brauchen wir ein Gericht, das allgemein als unabhängig anerkannt wird; erst dann wird der Vorwurf der Parteilichkeit gegen so einen Gerichtshof so gegenstandslos, dass ihn niemand mehr ernstnimmt.
Aber momentan ist der IStGH noch gar nicht so weit.
Die Staaten, die seine Bedeutung erhöhen wollen, klagen deshalb auch nur wegen Sachen, die sie wirklich klar belegen können.
Die Staaten, die seine Bedeutung verringern wollen, würden wegen absurdem Kram klagen, aber am liebsten klagen sie überhaupt nicht, weil ja schon das Einreichen einer Klage den Gerichtshof aufwertet.
Wegen solcher Sachen ist die Symbolik in der Diplomatie ja auch so wichtig.
Es gibt das Machtkalkül, aber da sich die Macht aller Regierungen wie indirekt auch immer auf die Zustimmung der Beherrschten stützt, können sie nicht beliebig schalten und walten, sondern müssen auch immer auf den öffentlichen Eindruck achten.
Und natürlich dürfen andere Staaten den Opfern von Völkerrechtsbrüchen zu Hilfe kommen - vor allem dann, wenn sie selbst indirekt ebenfalls betroffen sind bzw. Bedrohungen zu befürchten stehen.
Ja, nach den Regeln sowieso.
Nur sind diese Regeln halt nicht halb so verbindlich, wie es oft dargestellt wird.
Letztlich werden alle, alle, alle internationalen Regeln nur freiwillig eingehalten.
Diese Freiwilligkeit beruht dann auf langfristigen Zielen: Man möchte lieber regelbasiert als militärbasiert agieren, man möchte einen Ruf als vertragstreuer Verhandlungspartner aufbauen und hält sich nur deshalb an Verträge und selbstauferlegte Beschränkungen.
Das ist übrigens Russlands großes Problem jetzt.
Sie haben erst jahrzehntelang alle Verträge eingehalten. Selbst wo sie Konfliktpartei waren, haben sie Handelsverträge eingehalten, und zwar nicht nach dem Buchstaben, sondern nach dem Geist. Deshalb hat Deutschland sich ja selbst dann noch auf russisches Gas eingelassen, als Russland klar völkerrechtswidrig und unter allerlei fadenscheinigen Vorwänden die Krim besetzt hat: In Garantieverträgen war Russland nicht verlässlich, aber in Handelsverträgen schon.
Bei der Kriminvasion hat Russland dieses Vertrauen auszunutzen versucht, um die Unterstützer der Ukraine zu mehr Zurückhaltung zu bewegen. Putin hat gemeint, seine Kunden seien existenziell auf seine Lieferungen angewiesen und wären gezwungen, seine Befehle auszuführen.
Was er nicht bedacht hat: Er hat damit das Vertrauen in Russlands Handelsverlässlichkeit verspielt. Mit Russland überhaupt noch Geschäfte zu machen war plötzlich nicht mehr nützlich, sondern eine Gefahr, und deswegen hat der Westen möglichst alles an Handelsbeziehungen gekappt. Völlig erwartbar gab es ein paar Staaten, die doch anfällig waren; die haben für sich innerhalb der Weststaaten Sonderregeln herausgeschlagen, weshalb z.B. Gaslieferungen per Pipeline bis heute unsanktioniert geblieben sind.
Und wegen all dieser Freiwilligkeit schwankt die internationale Politik so merkwürdig zwischen Prinzipientreue und sehr gnadenlosem Pragmatismus:
Prinzipien immer da, wo sie durchsetzbar sind, und Pragmatismus, wo die Prinzipien wirkungslos bleiben.
Und Prinzipien in Reden, wo immer man die Bevölkerung auf seine Seite ziehen möchte. Das kann sogar völlig aufrichtig sein; interessanter ist, welche Prinzipien in welchen Situationen in den Reden hochgehalten werden.