Der auch hier im vorliegenden Artikel vorgestellte Vorschlag des geschätzten Autors und Juristen Richter Lorenz Bode wirkt gruselig weltfremd, denn sofern Angehörige der sozialen Eliten oder Amtspersonen zu Tatopfern werden, kommt das Opportunitätsprinzip in der Strafverfolgung gerade wegen deren herausgehobener gesellschaftlicher Bedeutung seltener zur Anwendung als bei unwichtigeren Opfergruppen oder als bei Tatpersonen aus politisch privilegierten Kreisen.
Lorenz Bode (14.05.2024): »Die RiStBV ist zwar eine reine Verwaltungsvorschrift für das Verfahrensrecht, bindet jedoch die Staatsanwaltschaft und soll so für eine bundesweit einheitliche Strafverfolgungspraxis sorgen. Ändert man die RiStBV, ließe sich antidemokratische Gewalt konsequent ahnden. Und das, ganz ohne das materielle Recht zu ändern. Dazu sollte in der RiStBV eine neue Nummer eingefügt werden. Diese stellt klar, dass bei Verfahren wegen Körperverletzung eine Einstellung aus Opportunitätsgründen immer dann ausscheidet, wenn sich die Tat gegen eine Politikerin oder einen Politiker richtet.« (https://www.blog-der-republik.de/angriffe-auf-politiker-das-strafrecht-kann-mehr-als-symbolpolitik/)
Als Nichtjurist empfinde ich die künstliche Unterscheidung zwischen Verwaltungsvorschriften der Exekutive und materiellem Recht als zynische und vielleicht gar verfassungsfeindliche Spitzfindigkeit, gerade weil eine solche Vorschriftsergänzung im Ergebnis auf eine je nach Opfergruppe unterschiedlich intensive Strafverfolgung abzielte. Opportunitätsgründe beträfen dann endlich und ganz hochoffiziell allein unbekannte Opfer niedriger sozialer Klasse, für deren belanglose Traumata sich bereits heute kaum jemand wirklich interessiert. Solche Leute halten die vielbeschäftigten Strafverfolgungsbehörden eines demokratischen Rechtsstaats doch nur unnötig auf durch verschwörungsideologisch motivierte Kriminalitätsängste bei womöglich diffus staatskritischer Haltung. Und wird nicht jede x-beliebige Straftat gegen eine demokratisch legitimierte Politik- oder Amtsperson bereits definitionsgemäß Ausdruck einer strukturell antidemokratischen »Gesinnung, die aus der Tat spricht« (§ 46 II StGB), sein, denn jede demokratisch gefestigte Tatperson entschiede sich doch für ein gewöhnlicheres Tatopfer?
Schon heute fragt man sich, warum das materielle Recht etwa eine üble Nachrede »gegen eine im politischen Leben des Volkes stehende Person« (§ 188 II StGB) mehr als doppelt so hart ahnden möchte als bei unauffälligeren Zivilpersonen. Diesen einschüchternden Umstand sollen manche Poltikpersonen gar gezielt mittels monatlich bis zu 200 Strafanzeigen aufgrund gegen sie gerichteter, politisch missliebiger Meinungsäußerungen missbrauchen, weil sie sich als Opfer fühlen und medial auch so wahrgenommen werden. Sofern durchschnittliche Zivilpersonen täglich die Polizei kontaktierten und Strafanträge stellten, etwa weil sie sich durch irgendwen beleidigt fühlen, so stünde bald zumindest der Verdacht eines psychischen Leidens im Raum und eventuell daneben noch Strafverfolgung wegen vorsätzlichen Missbrauchs von Notrufen.
Andererseits durften in den Jahren der Coronaviruspandemie viele als gesellschaftlich besonders bedeutsam empfundene, ideologisch motivierte Personen aus Politik und Medien täglich den Straftatbestand der Volksverhetzung (§ 130 I StGB) gegenüber einer sozial und behördlich klar abgrenzbaren, ungeimpften und somit angeblich blutsmäßig unterwertigen Minderheit verwirklichen, ohne dafür strafverfolgt zu werden. Aus Opportunitätsgründen?
Die Ursachen politisch motivierter Delikte liegen wohl vor allem in einer völlig enthemmten Sprache der Spitzenpolitik, die man noch bis vor wenigen Jahren als undemokratische Wählerbeschimpfung gesellschaftlich geächtet hätte. Und trifft das Vorurteil einer immer weiter zunehmenden Gewaltbereitschaft gegenüber Politikpersonen statistisch überhaupt zu? Vermutlich nicht, denn hinsichtlich politisch motivierter Anschläge könnten die 1990er-Jahre deutlich schlimmer gewesen sein als heute; man denke etwa an die drei Mordanschläge auf Oskar Lafontaine, Wolfgang Schäuble und Detlev Rohwedder innerhalb nur eines Jahres.