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  • Ralf_S1

mehr als 1000 Beiträge seit 30.10.2007

Sind einseitige Sezessionen wie in der Ukraine mit dem Völkerrecht vereinbar?

Sehr oft wird das Kosovo-Urteil in Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg angeführt. Eine Seite führt an, dass einseitige Unabhängigkeitserklärungen unzulässig sind und die andere Seite führt an, dass solche einseitigen Unabhängigkeitserklärungen durch das Völkerrecht gedeckt sind. Nach bisher nicht vollständigen Studium jedoch dem Fund markanter Textstellen gebe ich hier eine Einschätzung ab. Die Textstellen wurden aus dem Originaltext des Urteils entnommen und dann mit "Deepl" übersetzt. Vielen Dank an die Programmierer der Anwendung.

Der IGH hat sich beim Kosovourteil ausdrücklich auf die allgemeine Anwendbarkeit von einseitigen Unabhängigkeitserklärungen zur Abhilfe bezogen.

Aus dem Urteil übersetzt:
Zitat IGH Übersetzung: "Im Gegenteil, die Staatenpraxis in dieser Zeit lässt eindeutig den Schluss zu, dass das Völkerrecht kein Verbot von Unabhängigkeitserklärungen enthielt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich das internationale Selbstbestimmungsrecht in einer Weise, die den Völkern nicht selbstverwalteter Gebiete und Völkern, die fremder Unterwerfung, Herrschaft und Ausbeutung ausgesetzt waren, ein Recht auf Unabhängigkeit verschaffte. Zahlreiche neue Staaten sind durch die Ausübung dieses Rechts entstanden. Es gab jedoch auch Fälle von Unabhängigkeitserklärungen außerhalb dieses Kontextes. Die Praxis der Staaten in diesen Fällen lässt nicht darauf schließen, dass sich im Völkerrecht eine neue Regel herausgebildet hat, die es verbietet, in solchen Fällen eine Unabhängigkeitserklärung abzugeben."

Zitat IGH Übersetzung: "Der Gerichtshof stellt fest, dass "der Anwendungsbereich des Grundsatzes der territorialen Integrität auf den Bereich der Beziehungen zwischen den Staaten beschränkt ist“."

Anmerkung: Es war keine Spezifizierung auf irgendeinen Anwendungsfall getätigt worden

Nun kommt der Bezug auf spezielle Unabhängigkeits-Erklärungen:
Zitat IGH Übersetzung: "Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass der Sicherheitsrat zwar bestimmte Unabhängigkeitserklärungen verurteilt hat, dass er aber in all diesen Fällen eine Feststellung in Bezug auf die konkrete Situation getroffen hat, die zu dem Zeitpunkt bestand, als diese Unabhängigkeitserklärungen abgegeben wurden; Er stellt fest, dass "die Rechtswidrigkeit der Unabhängigkeitserklärungen somit nicht aus dem einseitigen Charakter dieser Erklärungen als solchen resultiert, sondern aus der Tatsache, dass sie mit der rechtswidrigen Anwendung von Gewalt oder anderen schwerwiegenden Verstößen gegen Normen des allgemeinen Völkerrechts, insbesondere gegen solche mit zwingendem Charakter (jus cogens), verbunden waren oder gewesen wären". Der Gerichtshof stellt fest, dass "der Sicherheitsrat im Zusammenhang mit dem Kosovo nie eine solche Position vertreten hat". "

Anmerkung: Dieser vorherige Teil ist besonders interessant. Der Gerichtshof stellt hier fest, dass es es keinen Entschluss des Sicherheitsrates gab, der die Anwendung von Gewalt gegen einen Staat in Zusammenhang mit Erreichen der Unabhängigkeit verurteilte.

Der IGH verschwieg vollständig die Bombardierung Serbiens, die Serbien dazu zwang auf die Ausübung der Souveränität auf dem Gebiet des Kosovo zu verzichten. Somit nahm er auch keine rechtliche Klärung zu der Bombardierung und der dadurch erst ermöglichten Unabhängigkeitserklärung vor. Dieser Verzicht war nun verhängnisvoll für die weitere Zukunft.

Zitat Wikipedia: "Anlass für den Angriff der NATO im Rahmen der Operation Allied Force war die Nichtunterzeichnung des Vertrags von Rambouillet durch den serbischen Präsidenten Slobodan Milošević. Offizielles Hauptziel der NATO war, die Regierung Slobodan Miloševićs zum Rückzug der Armee aus dem Kosovo zu zwingen und so weitere serbische Menschenrechtsverletzungen, wie das zuvor verübte Massaker von Račak, zukünftig zu verhindern. Offizielles Ziel Jugoslawiens war der Schutz der serbischen Minderheit im Kosovo und die Abwehr der aus seiner Sicht erfolgten Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates" (https://de.wikipedia.org/wiki/Kosovokrieg)

Der Gerichtshof war sich zu 100% der Schaffung eines Präzedenzfalles bewusst. Diese geht aus der Niederschrift der Einwände des Richters Koroma in dem Urteil des IGH hervor.
Zitat IGH Übersetzung: „Er gibt zu bedenken, dass eine gegenteilige Annahme und die Erlaubnis für jede ethnische, sprachliche oder religiöse Gruppe, ihre Unabhängigkeit zu erklären und sich von dem Staat, zu dem sie gehört, ohne die Zustimmung des bestehenden Staates und außerhalb des Kontextes der Entkolonialisierung abzuspalten, einen sehr gefährlichen Präzedenzfall schaffen würde, der auf nichts Geringeres hinausliefe, als allen dissidenten Gruppen auf der ganzen Welt zu verkünden, dass es ihnen freisteht, das Völkerrecht zu umgehen, indem sie einfach auf eine bestimmte Art und Weise handeln und eine einseitige Unabhängigkeitserklärung mit bestimmten Formulierungen verfassen."

Anmerkung: Letztendlich hat der IGH mit diesem Entscheid genau diese Einwände in den Wind geschlagen und somit in vollem Bewusstsein ein neues konkretes Völkerrecht geschaffen. Letztlich hat aus meiner Sicht der IGH in Sachen Bombardierung Serbiens und anschließender Unabhängigkeit des Kosovo vollständig versagt, da er sich nicht von Entscheidungen des UN-Sicherheitsrates unabhängig machte. Dem Separatismus wurden Tür und Tor nicht nur scheunenweit geöffnet. Aktuell sehen wir die Folgen des IGH Urteils weltweit in Kurdengebieten, an den Randgebieten von China etc. Je nach Bündnis-Affinität wird das Urteil in speziellen Fällen vergessen oder angewendet.

In Sachen Ukraine wird dieses Urteil von den Westallierten vergessen und von den Russen leider muss man sagen, konsequent angewendet. Der oben genannt Richter Koroma hätte sich nie denken können, dass er es sooooooooo richtig vorausgesehen hatte.

Anmerkung zum Staatenwechsel:

Auf der Krim, Luhansk und Donezk wurde zuerst die Unabhängigkeit proklamiert (unter Beihilfe des russischen Militärs) und erst dann der Antrag auf Angliederung an Russland gestellt. Der erste Schritt verstößt gemäß obigen zitierten Ausschnitten aus dem Kosovo-Urteil nicht gegen das Völkerrrecht, weil es gemäß des IGH keinen Einspruch des Sicherheitsrates zur Beihilfe des russischen Miltitärs gab (das russische Vetorecht im UN-Sicherheitsrat hat/hätte in diesem Fall genauso wie das Vetorecht der USA im Fall Kosovo/Serbien Anwendung gefunden). Praktisch heißt es, dass allen Vetomächten im Sicherheitsrat die Anwendung von Gewalt in Zusammenhang mit Unabhängigkeitserklärungen erlaubt ist, da es von Seiten der handelnden Veto-Mächte ein Veto gibt und somit eine Verurteilung durch den Sicherheitsrat unmöglich gemacht wird.

Im zweiten Schritt kam der Antrag zum Anschluss/Vereinigung auch hier liegt wegen mangels Völkerrechtswidrigkeit von Punkt Unabhängigkeit keine Völkerrechtswidrigkeit vor. Auch der Anschluss an Russland ist an sich kein Verstoß gegen das Völkerrecht. Diesen Fakt hatten wir bei der Wiedervereinigung von BRD und DDR zur BRD

Was die Gebiete Saporoshje und Cherson anbetrifft ist die Lage nicht eindeutig so oder so zu beantworten. Es bedarf hier aus meiner Sicht einer langwidrigen Argumentationskette um eine Aussage in die eine oder andere Richtung zu treffen.

Ohne diese Urteil wäre der Krieg in der Ukraine nie ausgebrochen. Dieses Urteil in Verbindung mit dem Kosovokrieg ermöglichten dem "Schach-Spieler" USA ganz bestimmte Züge zu ziehen und Russland in Positionen zu zwingen, die letztendlich Russland zum Aufgeben oder "Schach-Matt" zwingen sollen. Wozu alle diese Toten Menschen rund um Russland in Lybien, Syrien, Irak, Afghanistan und nun in der Ukraine in diesem Schachspiel?

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (30.09.2022 17:12).

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