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  • unbekannter Benutzer

mehr als 1000 Beiträge seit 10.01.2003

Danke!

Danke für diesen neutralen, effektsparsamen und gut durchdachten Artikel.
Das ist richtig wohltuend im Vergleich zu der Hetzerei der letzten Tage ... gern mehr davon.

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Zum Artikel:
Es ist mE nach eine Mischung aus beidem. Mein Bild von den Deutschtürken hat sich massiv gewandelt, seit ich in Süddeutschland lebe. Goldene Regel: es gibt nicht DEN Deutschtürken. Da gibt's welche, die sind top integriert: mein ehemaliger Projektleiter ist Deutschtürke mit beiderlei Pass. Wählen geht er aber nur in Deutschland, weil er der Meinung sei, dass es ihm nicht zustünde, die Politik in der Türkei zu beeinflussen. Weil das jetzt ein paar Jahre her ist, weiß ich nicht, wie er zu Erdogan steht: damals war er relativ kritisch eingestellt, ich nehme mal an, das wird er auch nicht abgestellt haben.
Nun wäre das Bild nicht komplett: der Mann ist kein "Überdeutscher" - er ist Deutschtürke, er streitet sein Erbe nicht ab, er ehrt es. Das heißt, er gehört beiden Kulturen an, er sieht sich eben als Deutschtürke, nicht nur als Türke und nicht nur als Deutscher. Beides. Und es funktioniert.

Ich kenne aber auch den anderen Fall: zwei aktuelle Kollegen. Mit einem komme ich, solange wir Politik und Religion als Tabuthemen nicht berühren, sehr gut aus. Er will in ein paar Jahren wieder in die Türkei zurückkehren, wartet hier in Deutschland aber noch, bis seine Frau fertig studiert hat. Auf den ersten Blick ist er nicht schlechter integriert als der o.g. ehemalige Kollege. Aber das täuscht: er ist felsenfester Anhänger Erdogans, glaubt daran, dass der Mann am Bosporus das Ruder rumreißen und die Türkei zu alter Größe verhelfen will. Und damit meint er nicht eine fortschrittliche, weltgewandte Türkei mit hohem internationalen Ansehen, sondern eher eine Art Neoosmanisches Reich.
Wie gesagt: abseits von Politik und Religion ist er genauso gut integriert wie der oben beschriebene ehemalige Kollege.
Der zweite ist da deutlich sichtbarer mit seinen Ansichten, wirkt aber ebenfalls gut integriert. Allerdings neigt er eher zur politischen Diskussion. Wirklich "gefährlich" an ihm ist nicht, dass er Erdogan-Anhänger ist oder eine wichtige Funktion in seiner religiösen Gemeinde einnimmt, sondern dass er komplett nüchtern erklären kann, warum Erdogan's Politik gut ist. Der ist kein Fanatiker - er ist einfach überzeugt, dass das, was Erdogan treibt, richtig und gut für alle ist.

Nun wäre das Bild nicht komplett, wenn ich nur drei Deutschtürken im Bekanntenkreis hätte. Es sind noch ein paar mehr und jeder ist anders drauf. Die "Kopftuchtürkin" ist allerdings nicht darunter.
Unser Lieblingsitaliener beispielsweise ist ein Türke, der den Italiener gut darstellen kann. Ob das jetzt "integriert" ist, will ich nicht beurteilen. Was den Schmuh angeht, ist er aber definitiv sehr gut im Bilde: nachdem er den Italiener aufgemacht hat, war er genau so lange Betreiber, wie er Steuervorteile genießen konnte. Kaum waren die weg, wurde seine Frau Betreiberin. Inzwischen müsste es sein Bruder sein, der den Laden betreibt. Was also das Nutzen von Tricks betreibt, ist er also mit allen Wassern gewaschen und "gut integriert". Naja. Menschlich ist er wirklich okay, wobei ich halt bei ihm wirklich nicht sagen kann, ob er gerade seine Rolle spielt, oder wirklich da ist. Ein komplett schwieriges Blatt, kaum zu entziffern. Von daher kann ich, obschon ich den Mann seit fast 10 Jahren kenne, ihn kaum vernünftig beschreiben. Seine Frau hingegen ist tatsächlich der integere, herzensgute Mensch, sie schauspielert nicht.
In unserer Nachbarschaft leben auch einige türkische Familien - die gar nicht so wirken. Es sind keine "Großfamilien" - mehr als zwei Kinder haben sie nicht. Die Frau läuft auch nicht mit Kopftuch mindestens 3 Schritt hinter ihrem Mann hinterher, es wird sowohl deutsch wie auch türkisch gesprochen, die Kinder gehen auf's Gymnasium.
Ich kenne aber, weil meine Frau Jugendarbeit macht, auch den "Gammeltürken", jedenfalls in Form von Jugendlichen, die keinerlei Perspektive sehen, die in der Hauptschule den Tag abhocken und nix besseres mit sich anfangen können, aber mit Großgetue und übertriebener türkischer Männlichkeit davon abzulenken versuchen. Sie sehen die Frau in der Küche und bei Kindern, als Bedienste eim Hause und sich als was "besseres". Das kann aber einfach nur jugendliches Dummgeschwätz sein, so wie ALLE Jugendlichen dummes Zeug labern. Einige der ehem. Jugendtreffbesucher sind heute gestandene Familienväter, die trotz schwieriger Jugend die Kurve gekriegt haben und wider jeder Erwartung keine Karriere als Krimineller oder Chauvinist begonnen haben.

Ich kann da jetzt weitermachen ... es wäre schlichtweg zuviel. Was ich mit sagen will: solche und solche, es gibt keinen "typischen Deutschtürken". Was mir Sorgen macht ist die hohe Anzahl der Erdogan-Anhänger. Man kann ihnen halt nicht hinter die Augen blicken, was sie wirklich denken. Das ist aber auch so bei allen anderen Menschen auch: ich weiß nicht, ob mein Gegenüber eine "rote Socke" ist, oder am liebsten per Maschinengewehr die Grenze sichern lassen möchte, solange politische Themen nicht angefasst werden.
Und leider ist es dieser Tage so, dass man besser auf Politisches verzichtet, weil der Riss der Gesellschaft so tief ist, dass er sogar Familien entzweit, so meine leidvolle Erfahrung.

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