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  • reisser

585 Beiträge seit 13.11.2006

Menschenverachtung mit Methode

Ich hatte und habe das Glück, Erfahrungen mit dem Jobcenter machen zu können, ohne selbst ein Opfer des Hartz-Regimes zu sein. (Ich helfe hin und wieder sysrischen Flüchtlingen bei Behördengängen und -korrespondenz.)

Bisher hatte ich ein positives Bild vom Öffentlichen Dienst in der Bundesrepublik, doch das hat sich mittlerweile von Grund auf geändert.

Es beginnt relativ harmlos mit behördlichen Schriftsätzen, die betont darauf angelegt sind, nicht verstanden zu werden, deren Nichtverständnis aber beim Betroffenen leicht zu Fehlern beim Ausfüllen von Formularen führen – und damit im ungünstigen Fall zum Verhängen von Sanktionen.

Weiter geht's mit mit absurden Formen von Beschäftigungstherapie – etwa, wenn jemand, der einen BA in Nachrichtentechnik hat, vom Jobcenter Informationen über Stellen für Ingenieure für Hochfrequenztechnik bekommt, oder ein Syrer auf eine Stelle für technische Dokumentation verwiesen wird, in deren Ausschreibung ausdrücklich "Deutsch in Wort und Schrift" gefordert wird. Jede dieser unsinnigen "Vermittlungsversuche", die auf den Betroffenen einprasseln, erfordert eine schriftliche Stellungnahme, warum keine Bewerbung erfolgt ist.

Gerichtsfeste Kommunikation über Einschreiben/Rückschein oder Fax wird sehr häufig ignoriert. Auf Nachfrage heißt es dann: "Ach, wir bekommen so viel Post, das können wir gar nicht lesen – kommen Sie doch lieber bei uns vorbei." Hier geht es also um deutsche Ämter, die Schriftverkehr schlichtweg nicht zur Kenntnis nehmen; kein Wunder, dass Jobcenter so oft vor Sozialgerichten abgewatscht werden. Das Problem dabei: Wem das Wasser am Hals steht, klagt nicht so leicht.

Eingereichte Dokumente verschwinden. Das Schriftstück ist in Gegenwart eines Begleiters/Zeugen an den Mitarbeiter des Jobcenters übergeben worden? Tja, das nützt auch nichts. Außer natürlich, wenn man sich auf einen Gang vor Gericht einlassen will.

So manche Mitarbeiter von Jobcentern leben in einer erstaunlichen Parallelwelt. Sie zaubern auf Maus-Klick über 200 in Frage kommende Jobangebote für einen ITler auf den Röhrenmonitor, obwohl der Betreffende zwar fließend Arabisch und Russisch, aber nur sehr mittelmäßig Englisch beherrscht (von Deutsch brauchen wir gar nicht zu reden).

Zusagen werden sehr häufig nicht eingehalten, trotz mehrmaligen Nachhakens und mehrmaliger Bestätigung ("Ja, das Geld ist überwiesen, diesmal bestimmt.")

Und und und…

Wo bleibt das Positive? Vor dem Jobcenter sind alle gleich, ob Schwarz, ob Gelb, ob Weiß – alle sind einem System ausgesetzt, das auf Erniedrigung derer abzielt, die da in die soziale Bodenhaltung geduckt werden.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Die Mitarbeiter in Jobcentern sind keineswegs Unmenschen. Sicher, es gibt vereinzelt unangenehme Bürokraten, die wahrscheinlich noch einem Ertrinkenden ein dreiseitiges Formular zum Ausfüllen zuwerfen würden, bevor sie ihn aus dem Wasser ziehen. Aber das sind Ausnahmen. Wer lange dabei ist, ist oft abgestumpft und überarbeitet, will nur irgendeinen Haken unter einen Fall setzten, das kann man verstehen. Viele sind schlicht inkompetent – und das hat damit zu tun, dass in den Jobcentern massiv auf befristete Arbeitsverhältnisse bei den eigenen Mitarbeitern gesetzt wird. Andere wollen tatsächlich helfen, werden aber vom System an allen Ecken und Enden blockiert. So lange, bis ihr einjährig befristeter Vertrag ausläuft oder sie am Ende doch abstumpfen.

Also: Die Mitarbeiter des Jobcenters sind in aller Regel nicht die "Bösen". Das von der Politik etablierte ALGII-System hat einfach die DNA von Menschenverachtung.

Für mich persönlich ein Grund, keine Partei zu wählen, die hinter diesem System steht. Womit die Auswahl ja ziemlich knapp ausfällt…

(Und wenn einer der Foristen mich nach diesem Rant doch noch zum Lachen bringen will, möge er einwerfen "Aber Schulz…")

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