Leider hat Frau Dorothea Siems mit ihrer Kritik nur bewiesen, dass sie das Konzept der relativen Armut nicht verstanden hat. Und auch im Artikel vermisse ich eine Klarstellung, deshalb hier ein Kommentar.
Ja: Wenn wir alle Gehälter in Deutschland verdoppeln würden, hätten wir immer noch genau dieselbe Armutsquote. Und diese Menschen würden sich auch vollkommen zu Recht als arm wahrnehmen, weil diese Wahrnehmung immer das zum Maßstab nimmt, was als normaler Lebensstandard gilt: Wenn ich mich nicht mehr zu lächeln traue, weil ich als einziger kein Geld für den Zahnarzt habe, bin ich einfach aufgrund meiner finanziellen Situation von Dingen ausgeschlossen, die für alle anderen selbstverständlich sind. Eine messbare Zahl für diese Grenze anzugeben, ist natürlich immer schwierig, aber irgendwo muss man sie ja verorten. Ich möchte meinen Kindern auch nicht erklären müssen, warum wir bei einer Verdoppelung aller Gehälter die einzigen sind, die sich kein Wochenendhaus in der Toscana leisten können, und wie sie das ihren Klassenkameraden vermitteln sollen. Kurz: Relative Armut ist immer gefühlte Armut, und das mit Absicht. Dass Armut in Deutschland damit etwas ganz anderes ist als Armut in Indien, ist selbstverständlich. Denn es wäre auch vollkommen abwegig, Armut bei uns mit indischen Maßstäben messen zu wollen (bis jetzt). Dieser Kritikpunkt trifft daher einfach überhaupt nicht bzw. setzt sich brutal über die entscheidende Bedeutung erlebter sozialer Ausgrenzung hinweg ("Was beschwert ihr euch, ihr habt doch genug zu essen!"). Wer so kritisiert, fordert letztlich indische Verhältnisse in Deutschland.
Kritik am Konzept relativer Armut macht aus genau entgegengesetzter Stoßrichtung deutlich mehr Sinn: Wenn wir den Durchschnittslohn in Deutschland halbieren, werden wir automatisch weniger Armut haben. Jede Regierung, die die Löhne niedrig hält, bekämpft also faktisch Armut, auch wenn Leute dabei verhungern. Eine Armutsquote von mehr als 50% ist sogar rechnerisch unmöglich, egal wie sich die Lage ändert. Und jetzt der wichtigste Punkt: Da wir in den letzten drei Jahrzehnten massive und einschneidende Wohlstandsverluste hinnehmen mussten, steht zu vermuten, dass zumindest unter den Älteren heute ein großer Prozentsatz ist, der sich im Vergleich zu früher eindeutig als arm erlebt, im Vergleich zum Durchschnittseinkommen jedoch nicht als arm anerkannt wird. Bei sukzessiven großen Wohlstandsverlusten bildet die relative Armut nicht mehr hinreichend die gefühlte Armut ab. Eine sachgemäße Kritik sollte daher genau umgekehrt darauf abzielen, dass die gemessene Armutsquote zu niedrig ist.