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Avatar von auf_der_hut
  • auf_der_hut

mehr als 1000 Beiträge seit 07.05.2008

Re: Gestern noch applaudierten sie dem Faschisten-Verehrer Melnyk, jetzt empören

Es ist eine Diskussion über den Kopf der Betroffenen hinweg. Man zeigt sich zwar betroffen über das Leiden der Ukrainer, aber zu Wort kommen lassen möchte man sie lieber nicht.

Wer Kontakt zu ukrainischen Flüchtlingen in Deutschland hat, der weiß, dass kaum einer sich eine Rückkehr in den russischen Herrschaftsbereich vorstellen kann, wenn der Krieg beendet ist. Viel hängt natürlich auch davon ab, wie es dann dort weiter geht, aber die viele haben Angst vor der Repression und der Brutalität der Russen. Sie leiden mit den Daheimgebliebenen, denn es gibt keinen sicheren Ort mehr in der Ukraine wo keine Raketen einschlagen und der Krieg nicht den Alltag bestimmt. Sie hoffen auf einen ukrainischen Sieg und eine Rückkehr in ihr altes Leben. Rückkehrer gibt es (trotz ständigem Luftalarm und Stromausfall) nur in die ukrainisch kontrollierten Gebiete, keiner geht in die eroberten Regionen zurück. Das mag eine gefärbte Sicht sein, weil die russlandfreundlichen Ukrainer vermutlich eher nach Russland geflohen sein werden, aber das ist das Bild hier in Deutschland.

Das Argument, Russland könne in der Ukraine nicht besiegt werden weil es eine Atommacht ist und sich das nicht gefallen lassen muss, ist offensichtlich falsch. Die USA zogen sich geschlagen aus Vietnam und Afghanistan zurück, Israel aus dem Libanon, Russland selbst (bzw. die Sowjetunion) aus den Ostblockstaaten, aus Tschetschenien (im 1. Tschetschenienkrieg) und ebenfalls aus Afghanistan. Begrenzte Niederlagen (und nur darum geht es) sind muss auch eine Atommacht ertragen. Seit es Atomwaffen gibt war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass sie nicht gegen Nicht-Atommächte eingesetzt oder ihr Einsatz angedroht wird. Darauf basiert das ganze Konzept der Nicht-Weiterverbreitung von A-Waffen, das jahrzehntelang überraschend gut funktioniert hat. Diesen Konsens hat Putin gebrochen, seit er die russischen Nuklearwaffen zum Bestandteil seiner Einschüchterungspolitik gemacht hat.

Putin hat mit seiner eigenwilligen Interpretation der Geschichte einen revisionistischen Ton gesetzt. Da diese Geschichtsstunde offensichtlich Teil der Rechtfertigung für die Invasion des Nachbarlandes ist, kann kaum ein Zweifel bestehen wie Putin das Rad der Geschichte zurückzudrehen gedenkt. Für Putin ist der Zerfall der Sowjetunion die ultimative weltgeschichtliche Katastrophe des 20. Jahrhunderts, ein später Sieg des Westens über Russland, das den großen vaterländischen Krieg doch gewonnen hatte und nun um seine Beute betrogen wurde. Für die Bevölkerung der einstigen russischen Satellitenstaaten ist es als hart erkämpfte Befreiung im nationalen Gedächtnis verankert und genau in dieser Tradition steht auch die Ukraine, wenn auch mit 30 Jahren Verspätung. Jedenfalls lässt Putins Rede kaum eine andere Interpretation zu, als dass dieser Fehler der 90er Jahre mit Gewalt korrigiert werden soll und im Prinzip auf eine Restauration des sowjetischen Machtbereichs unter russischer Flagge hinausläuft.

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