Misespeter schrieb am 22. November 2002 20:53
> Das Problem ist ein Anderes. Der Kapitalismus - soweit er ueberhaupt
> feststehend definiert ist - wird historisch als ein System
> betrachtet, in dem Kapital (=Erspartes) in privater Hand investiert
> wird, auf persoenliches Risiko, um den Gegenstand des
> Produktionsprogrammes festzulegen.
>
> In der Theorie soll hierduch erreicht werden, dass einmal durch die
> positive Motivation des Gewinns sowie durch die negative Motivation
> des Verlustes des Ersparten alle erdenklichen Anstrengungen
> unternommen werden, dass Produkte produziert werden, die auch eine
> reelle Nachfrage haben, und dass diese in effizienter Art hergestellt
> werden.
>
> So ein Wirtschaftssystem haben wir aber gar nicht.
> Im Gegenwaertigen
> Wirtschaftssytem werden Investitionen zumeist aus Krediten getaetigt,
> oder direkt oder indirekt vom Staat mit frischgedrucktem Geld. Auch
> die negative Motivation faellt weg, weil der Unternehmer ab einer
> gewissen Groesse fest damit rechnen kann, dass der Staat die Verlust
> traegt, und das Unternehmen nicht pleite gehen wird. Den besten
> Begriff, den ich fuer dieses System bisher kenne, ist Debitismus: es
> wird mit Schulden - dem Geld anderer Leute - gewirtschaftet und
> investiert.
Das ist in der Tat eine Unterscheidung innerhalb des kapitalistischen
Spektrums, die mir neu ist. Ich hatte den Kredit und das Bankenwesen
bislang für einen immanenten Teil des Kapitalismus und seiner
Selbstorganisation gehalten. Der etwas engere Begriff, den Du
verwendest, scheint mir nicht viel mehr, als das vernünftige
wirtschaften selbst zu definieren. In dieser Axiomatik ist sogar das
Risiko gering, da man durch den Verlust dessen, was man besitzt,
keine soziale Schuld eingeht: in manchen Ländern der Welt, v.a.
Indien und Pakistan, gibt es bis zum heutigen Tag Schuldknechtschaft,
eine zwar illegale, aber dennoch gern praktizierte Form von
Sklaverei.
>
> Welchen Sinn macht es nun, Kapitalismus zu kritisieren? Es existiert
> kein Kapitalismus.
Welchen Sinn hat es dann, ihn zu verteidigen?
> Der Kritiker kritisiert meist das existierende
> System, das er als Kapitalismus interpretiert (was den Kritiker in
> meinen Augen inkompetent macht, denn einem Arzt, der den Namen der
> Krankheit nicht kennt, die er diagnostiziert, schenke ich wenig
> Vertrauen). Ebenso verhaelt es sich mit der Kritik am
> 'Neoliberalismus'. Das was als 'neoliberal' bezeichnet wird, hat mit
> dem klassischen Liberalismus meist garnichts zu tun, oftmals ist es
> geradezu antiliberal.
Nun, der "Debitismus" schwimmt halt auf dem Liberalismus. Aber auch
hier finde ich die alte Idee wieder, derzufolge der Staat seine
"Nachtwächterrolle" einzunehmen hat, m.a.W. er muss für Recht und
Ordnung sorgen, damit die verängstigten Firmenbosse sich auch trauen
im wilden Barbaristan zu
investieren. Das ist die Logik von Organisationen, die irgendwo
zwischen Deinen
idealen menschlichen Wirtschaftssubjekten und Staaten angesiedelt
sind, die
noch für sich in Anspruch nehmen, "privat" zu sein. Hier gibt es für
mein Verständnis eine taxonomische Lücke. Man spricht von
"Großunternehmen". Aber sind Berge große Kieselsteine? Man kann
einige Aspekte isolieren und ihnen privaten Charakter zuschreiben,
aber das trifft wohl kaum die ganze soziale, ökonomische und
politische Realität. Das ist m.E. die Schwäche Deiner Analyse, die
stark dualistisch geprägt ist und den heroischen Unternehmer, gegen
die Politkaste setzt. Aber die Grauzone zwischen beiden ist noch mit
ganz anderen Monstern besiedelt. Eines von Ihnen besuche ich zur Zeit
fünf Tage, die Woche. Es ist widerwärtig, aber auch sehr interessant.
Offiziell bin ich Softwareentwickler, aber im Grunde wäre
Drachenpfleger wohl die passendere Bezeichnung. Als solcher wehre ich
mich aber ebenso dagegen, schon bei seiner Erwähnung rot anzulaufen
und mit Schaum vor dem Mund herumzukotzen, wie es unsere Linken
Freunde hier tun, die auch nichts begreifen.
> Wieder fragt man sich, wieviel ist ein Kritiker
> wert, der den kritisierten Gegenstand nicht mit korrekten
> Bezeichnungen belegen kann oder will, sondern stattdessen
> populistische Schlageworte benutzt, die in aller Munde sind, aber
> deren Inhalt kaum jemand versteht?
Ich weiß gar nicht, wer den Begriff "Debitismus" benutzt? Er scheint
offenbar rein abwertend verwendet zu werden, ähnlich wie
"Finanzkapitalismus", wobei dieser tunlichst vermieden wird, um sich
nicht die Rechten ins Boot zu holen, die das noch weiter zu
präzisieren wissen: "der Jude". Natürlich bewegt man sich innerhalb
einer solchen Begrifflichkeit von Kurzschluss zu Kurzschluss,
weswegen solche Diskussionen mitunter ziemlich abstoßend wirken. Aber
gibt es
das überhaupt: kühl und populär zugleich? Dazu müssten sich wohl
Instinkte verschieben, die fixieren, was sexy ist und was nicht, weil
es sich ansonsten nicht als Reproduktionsstereotyp eignet ... eine
unmögliche Aufgabe ...
Tloen
> Das Problem ist ein Anderes. Der Kapitalismus - soweit er ueberhaupt
> feststehend definiert ist - wird historisch als ein System
> betrachtet, in dem Kapital (=Erspartes) in privater Hand investiert
> wird, auf persoenliches Risiko, um den Gegenstand des
> Produktionsprogrammes festzulegen.
>
> In der Theorie soll hierduch erreicht werden, dass einmal durch die
> positive Motivation des Gewinns sowie durch die negative Motivation
> des Verlustes des Ersparten alle erdenklichen Anstrengungen
> unternommen werden, dass Produkte produziert werden, die auch eine
> reelle Nachfrage haben, und dass diese in effizienter Art hergestellt
> werden.
>
> So ein Wirtschaftssystem haben wir aber gar nicht.
> Im Gegenwaertigen
> Wirtschaftssytem werden Investitionen zumeist aus Krediten getaetigt,
> oder direkt oder indirekt vom Staat mit frischgedrucktem Geld. Auch
> die negative Motivation faellt weg, weil der Unternehmer ab einer
> gewissen Groesse fest damit rechnen kann, dass der Staat die Verlust
> traegt, und das Unternehmen nicht pleite gehen wird. Den besten
> Begriff, den ich fuer dieses System bisher kenne, ist Debitismus: es
> wird mit Schulden - dem Geld anderer Leute - gewirtschaftet und
> investiert.
Das ist in der Tat eine Unterscheidung innerhalb des kapitalistischen
Spektrums, die mir neu ist. Ich hatte den Kredit und das Bankenwesen
bislang für einen immanenten Teil des Kapitalismus und seiner
Selbstorganisation gehalten. Der etwas engere Begriff, den Du
verwendest, scheint mir nicht viel mehr, als das vernünftige
wirtschaften selbst zu definieren. In dieser Axiomatik ist sogar das
Risiko gering, da man durch den Verlust dessen, was man besitzt,
keine soziale Schuld eingeht: in manchen Ländern der Welt, v.a.
Indien und Pakistan, gibt es bis zum heutigen Tag Schuldknechtschaft,
eine zwar illegale, aber dennoch gern praktizierte Form von
Sklaverei.
>
> Welchen Sinn macht es nun, Kapitalismus zu kritisieren? Es existiert
> kein Kapitalismus.
Welchen Sinn hat es dann, ihn zu verteidigen?
> Der Kritiker kritisiert meist das existierende
> System, das er als Kapitalismus interpretiert (was den Kritiker in
> meinen Augen inkompetent macht, denn einem Arzt, der den Namen der
> Krankheit nicht kennt, die er diagnostiziert, schenke ich wenig
> Vertrauen). Ebenso verhaelt es sich mit der Kritik am
> 'Neoliberalismus'. Das was als 'neoliberal' bezeichnet wird, hat mit
> dem klassischen Liberalismus meist garnichts zu tun, oftmals ist es
> geradezu antiliberal.
Nun, der "Debitismus" schwimmt halt auf dem Liberalismus. Aber auch
hier finde ich die alte Idee wieder, derzufolge der Staat seine
"Nachtwächterrolle" einzunehmen hat, m.a.W. er muss für Recht und
Ordnung sorgen, damit die verängstigten Firmenbosse sich auch trauen
im wilden Barbaristan zu
investieren. Das ist die Logik von Organisationen, die irgendwo
zwischen Deinen
idealen menschlichen Wirtschaftssubjekten und Staaten angesiedelt
sind, die
noch für sich in Anspruch nehmen, "privat" zu sein. Hier gibt es für
mein Verständnis eine taxonomische Lücke. Man spricht von
"Großunternehmen". Aber sind Berge große Kieselsteine? Man kann
einige Aspekte isolieren und ihnen privaten Charakter zuschreiben,
aber das trifft wohl kaum die ganze soziale, ökonomische und
politische Realität. Das ist m.E. die Schwäche Deiner Analyse, die
stark dualistisch geprägt ist und den heroischen Unternehmer, gegen
die Politkaste setzt. Aber die Grauzone zwischen beiden ist noch mit
ganz anderen Monstern besiedelt. Eines von Ihnen besuche ich zur Zeit
fünf Tage, die Woche. Es ist widerwärtig, aber auch sehr interessant.
Offiziell bin ich Softwareentwickler, aber im Grunde wäre
Drachenpfleger wohl die passendere Bezeichnung. Als solcher wehre ich
mich aber ebenso dagegen, schon bei seiner Erwähnung rot anzulaufen
und mit Schaum vor dem Mund herumzukotzen, wie es unsere Linken
Freunde hier tun, die auch nichts begreifen.
> Wieder fragt man sich, wieviel ist ein Kritiker
> wert, der den kritisierten Gegenstand nicht mit korrekten
> Bezeichnungen belegen kann oder will, sondern stattdessen
> populistische Schlageworte benutzt, die in aller Munde sind, aber
> deren Inhalt kaum jemand versteht?
Ich weiß gar nicht, wer den Begriff "Debitismus" benutzt? Er scheint
offenbar rein abwertend verwendet zu werden, ähnlich wie
"Finanzkapitalismus", wobei dieser tunlichst vermieden wird, um sich
nicht die Rechten ins Boot zu holen, die das noch weiter zu
präzisieren wissen: "der Jude". Natürlich bewegt man sich innerhalb
einer solchen Begrifflichkeit von Kurzschluss zu Kurzschluss,
weswegen solche Diskussionen mitunter ziemlich abstoßend wirken. Aber
gibt es
das überhaupt: kühl und populär zugleich? Dazu müssten sich wohl
Instinkte verschieben, die fixieren, was sexy ist und was nicht, weil
es sich ansonsten nicht als Reproduktionsstereotyp eignet ... eine
unmögliche Aufgabe ...
Tloen