Hier wird durchaus Interessantes zum Thema beigetragen, doch führt Suchsland Rezension von Caroline Fourests Buch doch in mancher Hinsicht am Thema vorbei.
Wenn diese von einer 'Generation Beleidigt' spricht, verallgemeinert sie doch allzusehr. Die beschriebenen Beispiele absurden Verhaltens treffen nur auf einen Bruchteil dieser Generation zu, die sich in bestimmten Milieus tummelt, vorwiegend universitären Campus angelsächsischer, in jüngerer Zeit auch weiterer westlicher Staaten. Das Eigentümliche daran ist die dogmatische Haltung. Eine solche war z. B. auch bei oberflächlichen 68ern zu beobachten, die Zitate und Parolen deklamierten und daraus zwingende Handlungsanweisungen fürs Alltagsleben deduzierten.
Die Neigung zu dogmatischem Denken ist wohl in jeder Generation bei einem Teil ihrer Exponenten zu beobachten. Menschen, die sich sicher nur fühlen, wenn sie sich von einem virtuellen Stützpfosten zum anderen hangeln können, die sich nicht anders verhalten als Religiöse, die ihr Leben mit Hunderten Regeln und Gesetzen vollstellen, um ja nicht in die Verlegenheit zu kommen, eine eigenständige Entscheidung treffen zu müssen. Heterenomie in Reinkultur.
In der jüngeren Geschichte nominell linker Parteien im Westen haben sich individual-identitäre Inhalte gleichsam organisch eingenistet. Die linke Parteinahme für Minderheiten nahm, angesichts der Unmöglichkeit eines umfassenden Umsturzes, immer breiteren Raum ein. Etwas verkürzend kann man sagen, dass an einem bestimmten Punkt Karrieristen entdeckten, dass man damit Protestbedürfnisse auf bestimmte, individuell umtreibende Inhalte hin- und von universelleren linken Inhalten weglenken konnte. Nach und nach entdeckte ein Teil des Establishments, dass man damit ganze Parteien gleichsam mit den herrschenden Verhältnissen versöhnen, ja im Hintergrund deren weitere Radikalisierung betreiben und gleichzeitig gesellschaftlich progressiv erscheinenkonnte.
In der Folge erkannten die Rechten, dass dieses Konzept auch für sie taugt, man die eignen völkisch-rassistischen Identitätskonzepte damit in eine attraktive, noch unverbrauchte Form bringen kann. Erstmals seit der verheerenden Niederlage im Zweiten Weltkrieg gibt es für diese Kreise einen neuen Attraktionsdiskurs. Für die Bereitstellung dafür empfänglicher Massen sorgen die Auswirkungen der fortschreitenden Neoliberalisierung der Gesellschaft.
Damit wurde aber die hervorragend in die Individualismus-gesättigte angelsächsische Leitkultur passende neue Begrifflichkeit des Identitären geschärft. Diese Entwicklung erst führte im linken Spektrum zu einer Art Selbsterkenntnis, diverse zuvor als einzelne gesehene Diskurse wurden nun neu unter dem Identitätsbegriff zusammengefasst. Was wiederum eine Voraussetzung dafür ist, die individualistische Schlagseite und damit Depotenzierung des ursprünglichen linken Programms überhaupt sichtbar zu machen. Es ist nun sagbar, was man im Grunde längst weiss. Nämlich dass die Mehrheit der Parteien, die sich als linke definiert - eine Selbstdefinition, die von den tonangebenden kapitalistischen Medien laufend festgeklopft wird - es in einem umfassenden Sinn längst nicht mehr ist. Gesellschaftliche Umwälzungen sind identitätsdiskursiv nicht erreichbar, was nach Emanzipation aussieht, bleibt gesamtgesellschaftlich steril, fungiert geradezu als Sichtblende auf die grundlegenden Widersprüche.
Der Identitätsdiskurs ist also einerseits für die Linke ein trojanisches Pferd und für die Rechte ein Einfallstor in die aktuellen Bewusstseine. Ein Irrweg.
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