Achtung, der könnte länger werden:
Ein Erfahrungsbericht
Wie die Meisten, die aus Elternhäusern wie dem Meinen kommen, wusste ich nach dem Abi, das ich machen sollte, um mir möglichst viele Optionen offen zu halten, noch nicht annähernd, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Ideen und Interessen gabs genug, aber die Vorstellung, sich in irgendeine Art Arbeitsleben integrieren zu müssen, nach den Vorstellungen Anderer, erfüllte mich eher mit Schrecken, als mit dem (verordneten) Gefühl, in die große chancengespickte (Konsum-) Freiheit aufzubrechen, die allerorten propagiert wurde.
Da ich nach dem Wirtschaftsgymnasium von realitätsfremder Neoesotherik genug hatte, entschied ich mich dazu, Biologie zu studieren. Die ersten zwei Semester verliefen auch sowohl in persönlicher, als auch fachlicher Hinsicht sehr zufriedenstellend, dann geriet ich auf den beiden genannten Gebieten zusehends ins schleudern, was letztlich dazu führte, das ich abbrechen und mir eine konkrete Alternative suchen musste.
Diese fand ich auch in einem handwerklichen Ausbildungsberuf, den ich in einem Industriebetrieb nicht zu weit von meinem Wohnort (abgesehen von Blockunterricht weiter entfernt) "erlernte". Realität war, dass nur selten überhaupt die Zeit blieb, ordentlich eingearbeitet zu werden (wobei dies auch Abteilungsabhängig war). Das ich bereits ab dem 2. Lehrjahr voll auf Schicht Maschine fuhr, war mir finanziell durchaus recht und ich war gut und engagiert in dem was ich tat, vor allem, ich arbeitete Wochenenden durch usw..
Die Gesamtsituation, in der ich den Betrieb vorfand (vor gut 8 Jahren), will ich kurz umreißen. Es war für mich wie eine kleine Zeitreise in ein Stück gewachsene Industriekultur, patriarchal, streng hierarchisch, ans fordistische Prinzip erinnernd. Mit einer noch lebendigen Kultur, den Betrieb nicht nur zum Arbeitsplatz, sondern zum Lebensmittelpunkt der Arbeitnehmerschaft zu machen und ihnen soetwas wie eine "Heimat" und Gemeinschaft zu geben.
Nicht zuletzt hatte sich diese Kultur hier so lange gehalten, weil lange Zeit keine nennenswerten Neueinstellungen die Belegschaft verjüngt hatten und bereits viel wertvolles Wissen war dem Betrieb dadurch abhanden gekommen. Ein Großteil der Belegschaft stammte noch aus den 70ern und 80ern, also den Jahren, in denen die Industrie wuchs wie bescheuert und produziert wurde auf Teufel komm raus. Entsprechend wurden händeringend Arbeitskräfte benötigt und die kamen damals zum größten Teil aus Italien und der Türkei. Gebildet waren die Leute oft nicht sehr gut, als ich dort anfing erlebte ich Analphabeten, die sich 25 Jahre und länger als gute Kollegen bewährt hatten. Im Rahmen der Möglichkeiten, die für die Verhältnisse, benötigten Tätigkeiten und Mannstärken von "damals" auch völlig ausreichten und die wirklich ordentlich bezahlt wurden. Die Arbeit war mehr oder weniger simpel und fremdangeleitet, hart, mal zu warm, mal zu kalt, aber auf jeden Fall körperlich zehrend und nicht ungefährlich. Deutschstämmige Arbeitnehmer ruhten sich auch damals schon ganz gerne auf der halberzwungenen Leistungsbereitschaft fremdländischer Kollegen aus und die entwickelten so ihre Mechanismen, um sich zu wehren. Trotzdem sagen mir heute alle, früher war es ein besseres und kollegialeres Arbeiten.
Sprung in die Gegenwart. Wir haben 2018 und reden über Automatisierung und der Industrie 4.0, also der Digitalisierung und Optimierung einer Industriekultur, wie ich sie oben umrissen habe. Mechanisches wird zunehmend von Elektrischem abgelöst. Optimierer ziehen durch Betriebe mit hohem Altersdurchschnitt, erpicht darauf die Produktion durch "effizienteren Einsatz der Humanressourcen" zu "verschlanken" und das "Einkommensgefüge zu restrukturieren" (nach unten versteht sich) (sic!).
Von einer ausgebildeten, jungen Fachkraft erwartet man (bei gleichzeitig zunehmend abschätziger Behandlung älterer Kollegen) neben Konkurrenzverhalten (Leistungsoptimierung), Selbstorganisation (ist nämlich sonst keiner da), Flexibilität (ständige Bereitschaft), Verantwortungsbereitschaft (für durch Optimierung und Verschlankung hanebüchene Zustände) eben auch ein bestimmtes Klassenbewusstsein. Soll sich dann so ausdrücken, dass eine Klasse geschaffen wird, denen erzählt wird, wohoooo, er sei Facharbeiter und ja quasi was Besseres und immerhin hat er einen Festvertrag oder notfalls die realistische Option darauf, während der kleine Zeit- bzw. Leiharbeiter (der dann das Ende vom Lied nicht funktionierender Optimierung und Digitalisierung ist; hierarchiemäßig ist er vom Status her auf niedrigerem Niveau das, was früher der "Gastarbeiter" war) diesen "Luxus" ja nicht hat. Und natürlich wird das nie offen gesagt, aber die Option vor die man sich gestellt sieht ist: "Nimm selber die Peitsche in die Hand, Lüge und Betrüge (ohne Rücksicht auf Verluste) oder werde gepeitscht (belogen und betrogen wirs du sowieso)!"
Ansonsten wird ein Lohngruppenaufstieg schonmal ganz gerne unter vorsätzlicher Mißachtung aller anderen erbrachten Leistungen mit "mangelnder Durchsetzungsfähigkeit gegenüber älteren Mitarbeitern" oder schlicht "fehlender Entwicklungsfähigkeit" quittiert. Ergo: Man erwartet von mir, dass ich aus kurzsichtigen Erwägungen heraus andere Menschen so behandle, wie ich im Zweifel (und z.B. im Alter mit weniger Optionen und zweifelhafter Rente) nicht behandelt werden will.
Des weiteren soll ich mich von (direktstudierten) Fachidioten führen lassen (das sind die "Fachkräfte", an denen es laut Unternehmerlesart "mangelt"), die durch ihre (Herrschafts-) Regel- und Zahlenrunterbeterei höchstens frustrierten Konformismus, aber keine zielgerichteten Lösungen für Probleme im Produktionsprozess erzeugen können. Dazu fehlen ihnen allerdings auch die wegoptimierten Mittel, selbst wenn Horizont und Wille stimmen, die Meisten sind aber eh sehr auf ihre eigene Karriere und weniger aufs Betriebswohl konzentriert, auch und gerade wenn man durch maximalen, meist stumpfsinnigen Aktionismus gerne Gegenteiliges zu demonstrieren sucht (Prokrastinatentum). Unsere Abteilungsleiterposition ist als Schleudersitz berüchtigt. Das Verhältnis von Betriebsleitung zur Arbeitnehmerschaft könnte man als "kalten Krieg" bezeichnen.
Irgendwann, fragt man sich dann, warum man den ganzen perspektivlosen Käs eigentlich mitmacht und was man selbst mit den Aktionären und Managern so zu tun hat, die einem solche Arbeitsverhältnisse und Zukunftsperspektiven abnötigen und Dankbarkeiten für Dummdreistigkeiten tauschen wollen.
Und im Bewusstsein dessen, dass jenes, was ich (natürlich unvollständig) schrieb, im Vergleich zu anderen Industriebetrieben immer noch paradiesische Zustände darstellen, ist ein "Fachkräftemangel" in den genannten Bereichen weder etwas Neues noch etwas Überraschendes (die Entwicklung kommt nicht aus heiterem Himmel!). Aufm Bau und in kleineren Betrieben gehts im Zweifel noch viel mehr rund.
"Bei den Industrieunternehmen könne jedes zweite (50 Prozent) seine offenen Stellen nicht wie gewünscht besetzen, weil es die passenden Kandidaten nicht finde."
Wenn man das umdreht und nach den gleichen Kriterien bewertet, wieviele Fachkräfte finden denn ihren Wunschbetrieb, wenn man Wunschbetrieb nicht als "geringstes Übel" betrachtet? Wessen Anspruch und Wirklichkeit klaffen da wirklich auseinander?
Die SPD ist mit solchen Forderungen weder eine sozialdemokratische Partei, noch in irgendeiner Weise wählbar.
SPD als Wahlhelfer für AfD und Union.
Ist das alles noch Dummheit oder ist das schon geplant?
So oder so: Ich spiele keinen Steigbügelhalter mehr für profitgeile, gewissenlose, alternativlose Sachzwangkarrieristen, die mich zum radfahren nötigen und versuchen, mir die gleiche charakterliche Verdorbenheit aufzuzwingen, der sie selbst erlegen sind.
Mehr Freizeit bei vollem Lohnausgleich, Löhne anheben und Arbeitsbedingungen verbessern, bessere Arbeitsteilung, realistische Anforderungen und vor allem !Investition in (längere Aus-) Bildung!, dann klappts auch mit den Fachkräften.
Wenn nicht: F*ckt euch! Keine (aus- oder inländischen) Fachkräfte für Sozialschmarotzer!
Und nein, die AfD ist immer noch keine Alternative.
Gruß
Calyx