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  • jfmprof

844 Beiträge seit 24.09.2021

Wer schreibt denn Ihrer Meinung nach die Wahrheit

über die Hintergründe des Ukraine-Krieges? Ich meine an dieser Stelle ausdrücklich Hintergründe und Kriegsursachen, nicht die zuverlässige Berichterstattung über die militärische Situation.

Ein Hintergrund ist zweifellos die Sprachproblematik. Im Zuge der Industrialisierung in der Sowjetunion (SU), und vielleicht zum Teil schon unter den Zaren, ist ja das Russische in Gegenden gelangt, wo es vorher nicht vorkam. Beispielsweise schreibt die deutsche Wikipädie zu Transnistrien

In Transnistrien ließen sich Menschen aus allen Teilen der Sowjetunion nieder. Die New York Times beschrieb dies als sowjetische „Version des amerikanischen Schmelztiegels“ und befand, dass es „Orte wie dieser waren, an denen der homo sovieticus entstand“. Mit dem Zerfall der Sowjetunion sei die ehemalige Vorreiter-Region plötzlich zu einem Relikt der Vergangenheit geworden.

Entsprechend ist heute das Russische in Transnistrien dominant, im Rest Moldaviens das Rumänische. Bei derartigen Gelegenheiten kommt es oft zum Import sozial entwurzelter Schichten (aus Sicht der betroffenen Urbevölkerung: Unterschichten), im Fall der ehemaligen SU anscheinend oft Wattniks genannt. Jedenfalls war in diesem Forum mal jemand besorgt, daß jetzt DER Wattnik durchdreht. In der eher ländlichen Westukraine sind sie auch entsprechend wenig begeistert von den Manieren der Leute aus der stark industrialisierten und mehrheitlich russischsprachigen Ostukraine, die sich dorthin geflüchtet haben (https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-lwiw-fluechtlinge-101.html).

Die Problematik ist übrigens nicht spezifisch für die ehemalige SU. In Spanien ist das Baskenland stark industrialisiert, was mit einem Zustrom von Spaniern aus anderen Teilen des Königreiches verbunden war, der oft als Import von Unterschichten empfunden wurde, etwa von Sabino Arana laut https://en.wikipedia.org/wiki/Sabino_Arana

He was disturbed by the migration into Biscay of many workers from western and central Spain during the industrial revolution, into a small territory whose native political institutions had recently been suppressed (1876), believing that their influence would result in the disappearance of the 'pure' Basque race. He presented the Basque as opposed to the maketo (people from the rest of Spain):

"It is necessary to isolate ourselves from the maketos. Otherwise, in this land we walk on, it is not possible to work toward the Glory of God." Bizkaitarra, No. 19

Wenn man (wie ich vor zwei Jahrzehnten) sich mit dieser Problematik im Baskenland beschäftigt hat und dann über die heutigen Konflikte in der Ukraine liest, so ist man über die Parallelen überrascht.

Natürlich muß man auch berücksichtigen, daß die Grenzen zwischen den unfreiwilligen Mitgliedsstaaten der SU oft willkürlich gezogen wurden und nicht unbedingt mit den Sprachgrenzen aus der Zeit kurz vor Beginn der Industrialisierung übereinstimmen müssen. Beispielsweise könnte die Sprachgrenze zwischen Russisch und Ukrainisch auch vor Beginn der Industrialisierung teilweise den Dnjepr erreicht haben. In Deutschland etwa wurde früher bis in die Gegend von Plettenberg im Sauerland Platt gesprochen, und man kann jetzt, wo das Platt moribund ist, einigermaßen unbehelligt darüber schreiben. Da im Ukraine-Konflikt mittlerweile selbst Intellektuelle wie die Tochter Dugins aus dem Leben gebombt werden, werden die Philologen vom Fach vielleicht vor Publikationen über die historische Sprachgrenze zwischen Russisch und Ukrainisch zurückschrecken.

Interessant ist nun die Parteinahme des "Westens" in diesem Konflikt. Normalerweise wäre man strikt gegen jeden, der sich gegen den freien Zustrom der Arbeitskräfte auflehnt, lokale sprachliche Besonderheiten bewahren oder sich gegen den Zustrom von Unterschichten wehrt. In der Ukraine ist es aber gerade umgekehrt, man unterstützt eine aggressive Ukrainisierungskampagne gegen das Russische.

Eine Seite, die wirklich an der Wahrheit interessiert ist, müßte also diesen Dingen nachgehen, wie die Interessen der NATO hier in einen Sprachkonflikt eingreifen, der ohne dieses Eingreifen niemals das Potential gehabt hätte, die Geschicke eines großen Teiles der Menschheit zu beeinflussen.

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