02. April 2018 Paul Schreyer
Gedanken zu einer wenig beachteten und explosiven Regierungsstudie, die auf den Widerspruch zwischen Demokratie und konzentriertem Reichtum hinweist
Manche Zusammenhänge sind so simpel und banal, dass sie leicht übersehen werden. Louis Brandeis, einer der einflussreichsten Juristen der USA und von 1916 bis 1939 Richter am Obersten Gerichtshof, formulierte es so: "Wir müssen uns entscheiden: Wir können eine Demokratie haben oder konzentrierten Reichtum in den Händen weniger - aber nicht beides."
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Die Autoren der Studie analysierten dabei zunächst anhand der regelmäßigen Meinungsumfragen von ARD-Deutschlandtrend die Ansichten der Bevölkerung in etwa 250 Sachfragen. Untersuchungszeitraum waren die Jahre von 1998 bis 2015. Dann glichen sie diese Ergebnisse mit dem Handeln der Regierung in den Jahren danach ab. Was wurde umgesetzt, was nicht?
Die Analyse wies dazu noch einen entscheidenden Clou auf: Das Forscherteam unterschied die politischen Ansichten der Befragten gestaffelt nach deren Einkommen. Denn betrachtet man die Meinungen der einkommensschwächsten 10 Prozent (im Folgenden: "Arme") und die der einkommensstärksten 10 Prozent (im Folgenden: "Reiche"), dann ergeben sich teils drastische Unterschiede.
So wurde etwa bei einer Deutschlandtrend-Umfrage im Jahr 1999 danach gefragt, ob Vermögende stärker zum Abbau der öffentlichen Verschuldung herangezogen werden sollten. 70 Prozent der Armen stimmten dem Vorschlag zu, aber nur 46 Prozent der Reichen. Die Regierung orientierte sich an Letzteren. Im Jahr 2000 wurde gefragt, ob das Rentenniveau gesenkt werden sollte. Nur 43 Prozent der Armen stimmten zu, jedoch 64 Prozent der Reichen. Ergebnis: Das Rentenniveau wurde per Gesetz gesenkt.
2003, während der Diskussion um die Einführung der Hartz-Reformen, wurde gefragt, ob die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes gekürzt werden solle. Insgesamt gesehen war eine Mehrheit von 54 Prozent der Bevölkerung dafür. Betrachtete man aber die Einkommen getrennt, dann zeigte sich, dass zwar 69 Prozent der Reichen der Kürzung zustimmten, doch nur 44 Prozent der Armen. Gekürzt wurde trotzdem. Ein ähnliches Bild ergab sich bei der 2012 gestellten Frage, ob die Rente mit 67 rückgängig gemacht werden solle: 65 Prozent der Armen wollten das, aber bloß 33 Prozent der Reichen. Die Regierung folgte wieder dem Mehrheitswunsch der Wohlhabenden.
Wie die Studie zeigt, existieren die zweitgrößten Meinungsunterschiede zwischen Armen und Reichen in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Noch stärker sind die Differenzen bloß in der Außenpolitik. Als 2007 danach gefragt wurde, ob die Bundeswehr möglichst schnell aus Afghanistan abziehen solle, stimmten 75 Prozent der Armen zu, gegenüber 43 Prozent der Reichen. Die Regierung überging auch diesmal die Geringverdiener, der Militäreinsatz wurde zunächst sogar noch intensiviert.
Je mehr Arme dafür sind, desto eher ist die Regierung dagegen
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