Wir können nicht alles "Weltwissen" nur mit unserer Minifunzel des menschlichen Verstandes korrekt einordnen, weil wir, anders als vielleicht Kant (Ironie), keine Intellektgötter sind. Und dieser Umstand führt ja auch 2016 bei Jason Brannon (Trumps Wahlsieg unvorhergesehen) zu der Renaissance (mit moderner Wissenschaft) von Platons Ablehnung der Demokratie, gegen die Robert Goodin und Kai Spiekerman die Demokratie dann allerdings doch auch aktuell wieder verteidigen.* Wir sind tatsächlich darauf angewiesen, gelegentlich Spezialisten eines Faches mehr zuzutrauen als uns selbst. Die Idee, dass ich ohne zwei Uni-Module Statistik moderne empirische Studien verstehen könnte, ist anmaßend. Die Idee, von jedem Wähler zu glauben, er könne diese Module mal eben in seiner Freizeit durcharbeiten, ist auch anmaßend. Und in diese Kerbe schlägt moderne, 21. Jahrhundert, Propaganda, die eben nicht versucht, ein kohärentes Alternativnarrativ zu postulieren, sondern die intellektuelle Überforderung, die real ist, dahingehend ausschlachtet, dass sie die Bürger in ihrer Aporie gefangen hält, um sie zu "entpolitisieren".
Ums mit dem Russel-Zitat zusammenzuschneiden, es geht nicht darum, Bürger glauben zu lassen, der Schnee wäre schwarz. Das wäre gescheiterte Propaganda des 20. Jh. Es geht in Propaganda des 21. Jh. vielmehr darum, ihnen klarzumachen, dass sie gar nicht wissen können, ob der Schnee nun weiß, schwarz, rosa, gelb, violett, orange, grün oder "color grue" sei, sie dann aus dieser Aporie aber nicht mehr herauszulassen, damit sie sich sagen: "Von der Politik verstehe ich eh nicht genug, das sollen die Herren Putin/Erdogan/Trump unter sich ausmachen, die verstehen davon mehr." Post-Truth-Propaganda, nicht Alternative-Truth, keine Alternative zur Wahrheit, sondern die Auflösung des Konzepts von Wahrheit, die Annahme es gebe eh gar keine für mich erreichbare Wahrheit.
Was wir brasuchen ist die Erkenntnis, dass uns trotz Unsicherheiten, trotz erkenntnistheoretischer Schranken, dennoch nicht nur Beliebigkeit bleibt. Ich gehe mal davon aus, dass die allermeisten hier im Forum es für erwiesen annehmen werden, dass Rauchen das Lungenkrebsrisiko stark erhöht. Vor diesem Hintergrund ist es da schon merkwürdig, dass dieselbe Erkenntnismethode, die das Lungenkrebsrisiko beim Rauchen belegt, beim Klimawandel und bei Corona plötzlich als total umstrittene Methode hingestellt wird, der man nicht einfach so vertrauen dürfe. Physikstudenten wissen, dass Newtonsche Mechanik "falsch" ist, aber wenn ich eine Gartenschaukel mit Newtonscher Mechanik baue, dann funktioniert die trotzdem richtig, und niemand wird ernsthaft anfangen die Dimensionierung der Schwenkgelenke mit voller Ausbuchstabierung der Van-der-Waals-Kräfte aller einzlenen Atome zu berechnen. Genausowenig wird jeder, der nicht versteht, wie Quantenmechanik in der Gartenschaukel wirkt, nur aufgrund dieses fehlenden Verständnisses darauf verzichten, eine Gartenschaukel zu bauen.
Stimme ich dem Artikel hier zu? Überwiegend ja, aber ich sehe auch, wie er bei einem Teil der Leserschaft Propaganda des 21. Jh. unterstützen kann und das ist eine gegen Aufklärung gerichtete Gefahr, die Kant noch nicht kannte und mit der wir umgehen müssen. Meine Lösung wäre: Mehr geisteswissenschaftliche Aktivität aller Bevölkerungsmitglieder. Das geht zu Lasten der "Produktivität", weils ja viel wirtschaftlicher ist, wenn Fahrradkuriere weniger Freizeit für anstrengendes Denken verbrauchen müssen, aber die Alternative zur Akzeptanz von ein bisschen Unproduktivität durch Zeitaufwenden für geisteswissenschaftliche Bildung ist halt die Rückkehr autoritärer Staatsstrukturen. Und an dieser Stelle danke ich dem Artikel auch - dieser ist letztenendes genau solche geisteswissenschaftliche Breitenbildung.
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Brennan; Against Democracy
https://www.jstor.org/stable/44955571
Goodin/Spiekerman darauf:
https://www.cambridge.org/core/journals/economics-and-philosophy/article/abs/an-epistemic-theory-of-democracy-robert-e-goodin-and-kai-spiekermann-oxford-university-press-2018-xvi-456-pages/B3B19D55F422330FBEE7F9CE82BC314C
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