Hagjo1 schrieb am 09.08.2024 19:02:
Und trotzdem diskutieren WIR hier ernsthaft darüber, ob die ukrainischen/westlichen Eskalationen nicht die kritikwürdigsten sind
Nein, eigentlich nicht. Dass die russische Kriegführung keinerlei Scheu vor Kriegsverbrechen hat, wird eigentlich von niemandem abgestritten.
Es geht eher darum, ob "wir" als "Wertewesten" uns nicht an möglichst hohe moralische Standards zu halten haben. Möglichst unabhängig davon, welche Konsequenzen das hat.
Die prorussischen Schreiber bauen da natürlich möglichst hohe Hürden auf, so von wegen jeder verletzte Zivilist sei untragbar, und unterstellen dann dem Westen Heuchelei, weil er ja moralisch gar nicht so hochstehend sei, wie er tut.
Nur dass das halt viel zu einfach und absolut gedacht ist. Wenn ich entscheide, dass ich mich gegen einen Angriffskrieg verteidige, dann muss ich - aus moralischer Sicht - entscheiden zwischen Kapitulation und Verlust an Lebensjahren für mein ganzes Volk, oder Verteidigung und Verlust an Lebensjahren für meine Soldaten. Und alles unter der Bedingung, dass ich nie genau wissen werde, wie hoch der Preis für wen sein wird, d.h. es gibt auch noch (unvermeidlich) hohe Irrtumsrisiken.
Je nachdem, ob man eine Gesinnungs- oder eine Handlungsethik macht und wie man die Risiken beurteilt, kann man da schon zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, und das kann ich sogar respektieren.
Was ich nicht respektieren kann, sind moralische Grundsätze rein als vorgeschobene Argumente. Weder bei "Verhandlungs-" (eigentlich Kapitulations-) befürwortern auf Moskaus Parteilinie, noch bei Regime-Change-Weltverbesserern auf dem westlichen Ticket wie z.B. im Irak.
Solche Vorwände sind reine Heuchelei, und ich halte schon deshalb sowohl AfD als auch BSW für richtig üble Heuchler. (Und ich hab die Wagenknecht mal gut gefunden. Manchmal schämt man sich wirklich.)
und das die westlichen/ukrainischen Regierungen den Weg der Diplomatie einzuschlagen haben, statt sich zu wehren bzw. Waffen zu liefern?
Eine Diskussion, die im Land des Agressors (in RU) übrigens unter Strafe steht...
Hach ja, auch lustig.
Aber das ist ja eigentlich nicht der Punkt. Es geht nicht darum, ob die Russen schlimmer sind, sondern darum, ob die eigenen Maßstäbe noch stimmen.
Und darüber mal nachzudenken ist sicher nicht falsch.
Mein Ergebnis war eben: Wer sich gegen einen völlig unprovozierten Angriffskrieg verteidigt, kann nicht wegen unabsichtlicher(!) Kollateralschäden verurteilt werden.
Die Putinmännchen im Forum versuchen übrigens der Ukraine immer wieder absichtliches Bombardement von Zivilisten vorzuwerfen, um eben genau diese Haltung zu entkräften.
Manchmal werden sie sogar eine Situation finden, wo das tatsächlich erkennbar so war. Die ukrainische Armee besteht ja aus vielen Kommandeuren, und nicht alle von denen sind moralisch einwandfrei; gut möglich, dass der eine oder andere doch Rache nehmen will, weil grad die eigene Großmutter gestorben ist oder einfach weil er die Russen allgemein für "Orks" hält und es völlig in Ordnung findet, auch Zivilisten anzugreifen - was nicht in Ordnung ist, aber solche Kommandeure gibt es natürlich.
Soweit ich es mitbekommen habe, druckst die ukrainische Armee da ein bisschen herum, verurteilt ihre Kommandeure aber ab und zu durchaus. Ist kein perfektes Verhalten, aber auch nicht so hemmungslos wie bei den Russen, wo die Schlächter von Butscha sogar noch belobigt werden (und dann schleunigst in ein möglichst ehrenvolles Selbstmordkommando, damit sie nicht mehr aussagen können).
Eigentlich hätte jedem schon am 24.2.22 klar sein müssen, dass hier schon die Eskalation stattgefunden hat und das diese Eskalation erst beendet wird, wenn Putin seine Ziele erreicht hat oder gemerkt hat, dass er sie nicht erreichen wird. Und daran hat sich in den letzten knapp 30 Monaten nichts wesentlich geändert...
Also, die Angriffe auf zivile Ziele wie Supermärkte und die Schlächtereien in Butscha und anderswo haben mich schon schockiert. Dass sie tatsächlich auf das Barbarenniveau der Wehrmacht in Weißrussland und Ukraine runtergehen, damit hatte ich nicht gerechnet.
Ironischerweise hätte gerade Putin aus der russischen Geschichte genau das lernen können, wenn er gewollt hätte. Die Nazis hatten nämlich ein Partisanenproblem, als ruchbar wurde, wie die Wehrmacht haust, und genau dieses Problem hat sich Putin im Donbas eingetreten - die Schläge gegen die Schiffsflotte und die Luftabwehrstellungen wurden eben auch durch die Informationsweitergabe proukrainischer Partisanen auf Krim und im Donbas möglich.