Ansicht umschalten
Avatar von Irwisch
  • Irwisch

mehr als 1000 Beiträge seit 22.03.2005

Gruppen-Narzißmus

Manche kennen vielleicht die Geschichte vom griechischen Narzissos, der angeblich in sein eigenes Spiegelbild verliebt war und schlußendlich darin ertrank:

In der Sage wollte sich der Narzissos mit seinem Spiegelbild vereinigen. Er umarmte sein Spiegelbild und ertrank. Dieser Tod ist eine logische Konsequenz der Fixierung auf das falsche Selbst. Ein Mensch ist nicht nur dann liebenswert oder lebendig, wenn er seine guten, seine schönen oder seine gefälligen Gefühle zeigt, sondern ein Mensch ist auch dann liebenswert, wenn er seine unbequemen, oft verborgenen Gefühle preisgibt, wie z.B. Sorge, Ohnmacht, Scham, Eifersucht, Verwirrung und Trauer. (1)

Doch spiegelt diese Sage nur einen Bruchteil dessen, was Narzißmus tatsächlich ist. Einige Psychologen und Psychoanalytiker sprechen von einem gesunden und einem kranken Narzißmus, doch meiner Auffassung nach verfehlt diese Trennung das eigentliche Problem des Narzißten: Daß er sich nämlich gar nicht wirklich selbst liebt, sondern einen übertriebenen Kult um sein Ego, seine Bedeutung, seine Wichtigkeit und Wertigkeit betreibt.

Ein Mensch entwickelt sich zum Narzißten, wenn es ihm in Kindheit und Jugend verwehrt wird, seinen angeborenen biologischen Kern zu einem gesunden Selbst zu entfalten. Die allermeisten Kinder müssen sich zwangsläufig so entwickeln, wie ihre Eltern und später die Lehrer und andere Autoritätspersonen sie haben wollen. Kinder können sich diesem Druck der Eltern nicht entziehen. Sie würden deren Zuwendung und Aufmerksamkeit riskieren. Bereits Säuglinge passen ihr Verhalten dem der Mutter an, wenn sie z.B. versuchen, das ganz natürliche Bedürfnis nach Hautkontakt mit der Mutter auszudrücken und daraufhin ärgerliche Reaktionen der Mutter ernten. Kommt das regelmäßig vor, unterdrücken Säuglinge wie auch Kleinkinder dieses Bedürfnis, indem sie es von der Wahrnehmung abspalten: Sie schauen dann dort nicht mehr hin, weil das Bedürfnis nach Hautkontakt fortan Angst auslöst, und zwar große Angst, quasi Todesangst, denn ohne die Zuwendung der Mutter ist ein Kind verloren.

Als Ersatz für die verweigerte Selbstentwicklung entsteht eine Art künstliches »Selbst«, das sogenannte Ego, das in weiten Teilen mit den Bedürfnissen der Eltern, mit deren Sichtweisen und Zwängen gefüllt wird. Das Ego repräsentiert den psychischen Teil in uns, der so zu sein versucht, wie man uns haben will. Das Ego oder auch die sogenannte PersönlichkeitPerson kommt vom griechischen persona und bedeutet soviel wie Maske – ist das Abbild der gesellschaftlichen Forderungen an das Personal: So sollen Menschen sein, um der Gesellschaft zu dienen.

Da sich durch diese Entwicklung kein fester innerer Kern eines Menschen entwickeln kann, bleibt der Narzißt sein Leben lang darauf angewiesen, von außen, von anderen Menschen Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erhalten. Bleiben diese Zuwendungen aus, versinkt er allermeist in tiefe Niedergeschlagenheit, verliert seinen Antrieb und greift nicht selten zu Drogen, um diesen unaushaltbaren Zustand zu vernebeln. Oder er wendet sich irgend einer Organisation zu, in der er dann wenigstens zu etwas gehört, das größer ist als er.

Hier finden wir die Ursprünge des Gruppen-Narzißmus. Als Nichts, als das sich der durchschnittliche Narzißt, der seinen ganz normalen Job macht und kaum Anerkennung erfährt, fühlt, strebt er häufig danach, im Verbund mit anderen dann doch wieder was zu sein, das Aufmerksamkeit und Anerkennung verdient. Das Erlebnis im Stadion gibt dem erfolglosen Narzißten die Möglichkeit, sich als Mitglied, als ein Teil von etwas Größerem zu fühlen und so die unerträgliche Empfindung der Minderwertigkeit für eine kleine Weile loszuwerden. Das gilt auch für viele andere Mitgliedschaften, deren Institutionen sich gewöhnlich dadurch auszeichnen, daß sie sich – hauptsächlich gegen Konkurrenz durch andere Organisationen – scharf und massiv abgrenzen. Institutionalisierte Religionen sind dafür ein illustres Beispiel: Je näher sich die jeweiligen religiösen Institutionen inhaltlich stehen, desto heftiger bekämpfen sie sich. Letztlich geht es darum, Macht zu akkumulieren und zu festigen, sozusagen als Schutz vor der Gefahr, wieder der Empfindung von Minderwertigkeit ausgesetzt zu sein.

Elias Canetti hat diese Mechanismen bereits in seinem 1960 erschienen Buch Masse und Macht – wesentliche Zusammenhänge zum Verständnis unseres Zeitalters niedergeschrieben. Bei aufmerksamer Lektüre erhellt sich dem Leser ein wichtiger Umstand: Den allermeisten Menschen ist nicht bewußt, daß sie gehorchen und daß Gehorsam die Unterwerfung des eigenen unter einen fremden Willen bedeutet. Viele scheinen zu glauben, Gehorsam sei mit der Treue verwandt, und die stelle eine Pflicht des guten Bürgers dar. Für den unaufgeklärten Bürger ist es ein gutes und bestärkendes Gefühl, gehorsam und treu zu sein, er fühlt sich dann anständig und richtig. Ungehorsam verbindet er mit Kriminalität, mit wilden, ungewaschenen Hippies, umherziehenden Zigeunern und anderem »Gesindel« wie Mietnomaden und Messies. So fühlt sich auch der durchschnittliche Fußballfan nicht nur »seinem« Verein treu ergeben, sondern auch der Nation, in deren Namen die Nationalmannschaft gegen »feindliche« Mannschaften antritt.

Auch der Bestseller-Autor Douglas Murray hat erst kürzlich ein Buch über die Massen veröffentlicht: Wahnsinn der Massen – Wie Meinungsmache und Hysterie unsere Gesellschaft vergiften (2019). Darin diskutiert er die heute deutlich sichtbare Verwirrung der Massen und deren Ursachen. Zahlreiche gesellschaftliche Spaltungen beruhen auf gezielt gestreuter Desinformation, die bereits in den Schulen, ja meist sogar schon im Elternhaus beginnt. Murray beschreibt, wie in den letzten »drei Jahrzehnten alle unsere großen Narrative in sich zusammengefallen sind«. An ihre Stelle ist ein großes Nichts getreten, durchsetzt mit zahllosen widersprüchlichen Behauptungen und und einer auffallend großen Skepsis.

Es war unvermeidlich, die entstandene Leere erneut zu füllen. Die Menschen der wohlhabenden westlichen Demokratien unserer Zeit konnten unmöglich die ersten in der Geschichte der Menschheit sein, die keinerlei Erklärung dafür fanden, was wir hier tun, und keine Erzählung hätten, die ihrem Leben Sinn verleiht. Was immer den großen Erzählungen der Vergangenheit auch gefehlt hat, so gaben sie doch dem Leben eine Bedeutung. Die Frage, was genau wir eigentlich mit unserem Leben anfangen sollen – außer Reichtümer anzuhäufen, wann immer es geht, und jedem erdenklichen Vergnügen nachzugehen, das sich uns bietet –, musste irgendwie beantwortet werden. (S.12)

Diese neuen Quasi-Narrative, die heute vielfach von Konzernen wie Google, Twitter und Facebook gesteuert werden, dienen nicht mehr der Orientierung und Aufklärung der Bevölkerung, sondern einzig diesen Konzernen:

Die unglaubliche Geschwindigkeit, mit der sich diese Entwicklung vollzog, lässt sich nicht nur damit erklären, dass eine Handvoll Unternehmen aus dem Silicon Valley (vornehmlich Google, Twitter und Facebook) in der Lage sind zu steuern, was ein Großteil der Menschen auf dieser Welt weiß, denkt und äußert, sondern auch mit ihrem Geschäftsmodell, das – so wurde es einmal trefflich formuliert – darauf beruht, »Kunden zu finden, die bereit sind, Geld dafür zu zahlen, dass sie das Verhalten Dritter beeinflussen können«. Erschwerend kommt hinzu, dass die modernen Technologien so rasend sclmell sind, dass wir kaum noch mit ihnen Schritt halten können. Dennoch werden diese Kriege nicht grundlos geführt. Sie alle weisen in eine bestimmte Richtung. Und diese Richtung verfolgt ein ungeheures Ziel. Ziel ist es – manchen Menschen dürfte es bewusst sein, anderen dagegen nicht –, eine neue Metaphysik in unserer Gesellschaft zu verankem: eine neue Religion, wenn Sie so wollen.(S.12)

Paul Schreyer hat in seinem Buch Die Angst der Eliten – Wer fürchtet die Demokratie? deutlich gemacht, daß vor allem der alles verschlingende Finanzsektor die treibende Kraft hinter dem seit Jahren beobachtbaren weltweiten Abwärtstrend ist. Doch ohne die entfremdete Gehorsamserziehung, die seit Jahrtausenden die Menschen zu willfährigen Untertanen konditioniert, könnten diese Eliten nicht existieren. Arno Gruen wie vor ihm bereits Erich Fromm (3) haben beide erkannt, daß die Ursachen aller sozialen und politischen Verwerfungen, die meist in Krieg und Vernichtung münden, nicht allein in den Machtstrukturen liegen, die das Unrecht mehr und mehr zementieren, sondern vielmehr im anerzogenen Gesellschaftscharakter, der – beginnend mit den Eltern bis zu den gesellschaftlichen Autoritätsfiguren – seit undenklichen Zeiten den Kindern aufgezwungen wird. Aus gehorsamen Kindern werden angepaßte und untertänige Erwachsene, die dann die nächsten Generationen entfremdeter Menschen dressieren. Die herrschenden Strukturen der Macht und Ausbeutung, der Vernichtungskriege und der Umweltzerstörung sind letztlich Ausdruck der weit fortgeschrittenen Entfremdung des Menschen von seinem eigentlichen Selbst, von seinem natürlichen Wesen.

Dasselbe sagen zeitgenössische Psychologen wie Hans-Joachim Maaz, (4) Gerald Hüther (5) und viele andere.

(1) https://www.narzissmus.net/die-sage-des-narzissos-nach-alice-miller-erweitert-durch-daniel-s/

(2) http://www.irwish.de/Site/Biblio/ArnoGruen.htm

(3) http://www.irwish.de/Site/Biblio/Fromm.htm

(4) https://www.youtube.com/results?search_query=hans-joachim+maaz

(5) https://www.youtube.com/results?search_query=Gerald+H%C3%BCther

Bewerten
- +
Ansicht umschalten