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  • FünfVorHalbZwölf

mehr als 1000 Beiträge seit 14.10.2016

Zum "Loch in der Psyche"

blu_frisbee schrieb am 13.07.2021 12:35:

Radio Controlled schrieb am 13.07.2021 11:16:

woher kommt nur diese Panik die Identität zu verlieren?!
wenn es keine Nationalstaaten mehr gibt?

Ich würd ja schon mal fragen, wieso Leut überhaupt a 'Identität' brauchn,
obs da a Loch in der Psyche gäb was weh tut wenns fehlt

Das kommt drauf an, wie 'Identität' konnotiert sein soll; im Sinne der akuten Identitätsdebatten hat diese Frage durchaus eine subversive Notwendigkeit, weil darin die materiell entscheidende Identität in der Regel ausgeklammert bleibt.
Umso verdienstvoller ist m.E. Arno Franks Beitrag, der schön anekdotisch hinterlegt auf dieses Kerndilemma hinweist:

https://www.deutschlandfunkkultur.de/identitaetspolitik-und-klassismus-sie-sagen-klasse-aber-sie.1005.de.html?dram:article_id=497027

"Treffen sich eine Marxistin und ein Vertreter der Identitätspolitik, also eine Linke der ganz alten und ein Linker der ganz neuen Schule. Sagt der Identitätspolitiker: "Gender!". Darauf die Marxistin: "Klasse". Der Identitätspolitiker: "Gender und Rasse!", worauf die Marxistin erwidert: "Klasse und Klasse". Der Anhänger der Identitätspolitik unternimmt einen letzten Anlauf: "Gender, Rasse, Sexualität, Herkunft, Behinderung!"

Die Marxistin antwortet: "Klasse, Klasse, Klasse, Klasse, Klasse".

Neuerdings sagt auch der Identitätspolitiker "Klasse", aber er meint es nicht so. Bei ihm klingt es nicht nach Klassenkampf, Streik oder Sozialismus. Er nennt es Klassismus und macht daraus eine systematische Benachteiligung unter vielen anderen. Es ist die alte "soziale Frage" in neuem Gewand."

Zu kritisieren hätt' ich dran, dass Frank das scharfe Messer, mit dem er "Klassismus" seziert, nicht an den "Aufstieg" ansetzt und allen Proletarischen unterstellt, es wäre ihr quasinatürliches Interesse, in die bürgerliche, die Mittelklasse "aufzusteigen", anstatt bessere Bedingungen für ihre eigene Klasse zu erkämpfen - von der Schlusspointe mal abgesehen, die alles Vorherige aber nicht absticht, sondern m.E. eher mit fingerdick distanzierender Ironie zuschmiert.

Aus meiner Sicht ist dieses ganze Gespenst, das heute in Form von "Identitätspolitik" durch die Debatten geistert, die farcenhafte zombifizierte Wiederkehr einer vor etwa 30 Jahren tragisch geendeten Debatte, wissenschon, die in der radikalen Linken um Haupt- und Nebenwidersprüche geführt wurde. Das kulminierte in Klaus Viehmanns "DREI ZU EINS", zu dem wir beide sicherlich recht unterschiedliche Standpunkte einnehmen:

https://nadir.org/nadir/initiativ/id-verlag/BuchTexte/DreiZuEins/DreiZuEinsViehmann.html

Aber wie auch immer wir uns dazu stellen, es war wenigstens eine ernsthafte und wichtige Debatte, die - und das ist das eigentlich Tragische daran - eben an dem Punkt vom Laufe der Welt infolge '89 regelrecht verschüttet wurde - we had a bigger problem now.
Die "Wiedervereinigung" Hierlands und der Zerfall Jugoslawiens nötigten fast allen linken Diskursen um Verortung die prioritäre Prägung auf nationale Identitäten hin auf, alles Andere geriet entsprechend ins Hintertreffen. Die Klassenidentität insbesondere, wahrscheinlich weil eben ein Großteil der seinerzeit an der Haupt- vs. Nebenwiderspruchsdiskussion Beteiligten nach Abschluss ihres Studiums eben zu Bürgerlichen aufgestiegen und den Hauptwiderspruch ganz hinten anzustellen materiell nun in der Lage waren - wer Gewissensdruck zu lindern hatte, konnte ja für soziale Zwecke spenden oder sich noch in 'ner Suppenküche solidarisch für die nun Subalternen engagieren.
Hinzu kam noch, dass der von den sozialliberalen Regierungen ála Schröder, Blair, Clinton etc. der neoliberalistische Sozialabbau nur um den Preis betrieben werden konnte, hinsichtlich allem Anderen außer dem Hauptwiderspruch sich als Fortschrittsmotor zu gerieren, um im Lager der Bürgerlichen die Wählenden zu gewinnen, die sie in der Arbeiterklasse verloren.

Das Ende vom Lied, von der ernsthaften Diskussion um das Verhältnis der Widersprüche untereinander ist - und das ist die eigentliche Farce daran - ist ein eigenartiges Nebenwiderspruchsgewusel geworden, dem mit dem Hauptwiderspruch sozusagen das Rückgrat entfernt worden ist. Oder um darauf zurückzukommen: die unbestrittene Hauptachse im Erzeugendensystem linken Bewusstseins.

Ist schon wieder etwas ausgeufert jetzt, aber ich wollt' schon lange mal meinen Senf zu der ganzen Identitätsfarce geben, geschafft soweit erstmal.

Aber eigentlich wollt' ja was zum möglichen Loch in der Psyche sagen, das die Sozialpsychologie durchaus modelliert:

https://de.abcdef.wiki/wiki/Self-categorization_theory

"Nach der Selbstkategorisierungstheorie beschreibt die Depersonalisierung einen Prozess der Selbststereotypisierung . Hier sehen sich die Menschen unter den Bedingungen sozialer Aufmerksamkeit und konsequenter Akzentuierung "eher als austauschbare Vorbilder einer sozialen Kategorie als als einzigartige Persönlichkeiten, die durch ihre Unterschiede zu anderen definiert werden". Unter diesen Bedingungen stützt ein Wahrnehmender sein Verhalten und seine Überzeugungen direkt auf die Normen , Ziele und Bedürfnisse einer herausragenden Gruppe. Wenn beispielsweise die hervorstechende Selbstkategorie einer Person zum "Armeeoffizier" wird, handelt diese Person eher in Bezug auf die mit dieser Kategorie verbundenen Normen (z. B. eine Uniform tragen, Befehle befolgen und einem Feind misstrauen) und weniger wahrscheinlich in Bezug auf andere potenzielle Selbstkategorien zu handeln. Hier kann gesagt werden, dass die Person die Ähnlichkeiten zwischen sich und anderen Mitgliedern der Kategorie „Armeeoffiziere“ betont.

Turner und Kollegen betonen, dass Depersonalisierung kein Verlust des Selbst ist, sondern eine Neudefinition des Selbst in Bezug auf die Gruppenmitgliedschaft. Ein depersonalisiertes Selbst oder eine soziale Identität ist genauso gültig und bedeutungsvoll wie ein personalisiertes Selbst oder eine persönliche Identität. Ein Verlust des Selbst wird manchmal unter Verwendung des alternativen Begriffs Deindividuation bezeichnet . Obwohl der Begriff Depersonalisierung in der klinischen Psychologie verwendet wurde , um eine Art von ungeordneter Erfahrung zu beschreiben, unterscheidet sich dies völlig von Depersonalisierung in dem Sinne, wie es von Autoren der Selbstkategorisierungstheorie beabsichtigt ist.

Das Konzept der Depersonalisierung ist für eine Reihe von Gruppenphänomenen von entscheidender Bedeutung, darunter sozialer Einfluss, soziale Stereotypisierung , gruppeninterner Zusammenhalt , Ethnozentrismus , konzerninterne Zusammenarbeit , Altruismus , emotionales Einfühlungsvermögen und die Entstehung sozialer Normen."

Oder kurz gesagt, das Bedürfnis, uns irgendwo einzuordnen, wohnt uns allen inne.
Als problematisch zu sehen ist lediglich, dass hinter lauter angebotenen postmodernen Identifikationsklassen ausgerechnet die Klassenidenfikation ins Abseits geraten ist.

bevor ich frag wieso das unterstellte Defizit ausgerechnet mit Nation gestopft werden muß,
a Nation ist dem Menschen was Äußerliches, man kann die wechseln.

Muss ja nicht, wird aber, weil die Nation selbstverständlich zunehmend von der technologischen, wirtschaftlichen und ökologischen globalen Dynamik in einen größeren Zusammenhang eingewoben wird, der Vielen zu komplex erscheint und Furcht auslöst.
Beispiel Brexit, bloß geholfen hat's den Briten gar nix, was vorhersehbar war, aber sich nun zunehmend offener rauskristallisiert.

Ich versteh des alles ned.
https://www.youtube.com/watch?v=TAGjuRwx_Y8

THX! Hochinteressant dieser Einblick in die ?paradisische? Lebenswelt unserer Zeitgenossen, fressen saufen ... naja ficken haben sie wohl rausgeschnitten wegen den Kids, oder über Frauen zu reden ist ebenso tabu wie sie zu zeigen möglicherweise.
Die Hunde scheinen jedenfalls wichtiger.
Die Selbstkategorisierung ergibt sich dort von selbst aus recht ursprünglichen Motiven:
die Befriedigung der absoluten Grundbedürnisse in der Gruppe incl. Hunde ist Dreh- und Angelpunkt aller Weltsicht, In-Group vs. Out-Groups (Nomaden, die als Bedrohung der eigenen Lebensweise wahrgenommen werden, aber auch Paviane, zu denen offenbar ein so weitläufiges Verwandtschaftsvehältnis gefühlt zu werden scheint, dass sie jedenfalls ruhig verspeist werden können) sind schon definiert.
Metaphysisches ist offenbar noch nicht mal im Ansatz vorhanden, Mond und Gestirne interessieren einzig in ihrer praktischen Bedeutung für die Jagd.

So, abschließend meinerseits auch noch eine Filmempfehlung, weil ich mich bei dem heiteren Durcheinandergeschnatter des französischen linksliberalen Bürgertums der frühen 90er Jahre doch unwillkürlich an den Satz aus dem oben verlinkten Erzeugendensystem-Beitrag erinnert fühlte:

"In der Mathematik der Ideen hätt ich noch gerne ein Erzeugendensystem unabhängiger Ideen (aka eine Basis), was man wohl mit cleavage-Theorien erreichen sollte. Bin aber selber noch am Erarbeiten. Auch Schuster referiert verdienstvoll unterschiedliche Positionen im Dickicht der (auch falschen) Ideen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Erzeugendensystem
"

Nicht, dass es unbedingt großartig hülfe für's Hier und Jetzt, aber hochamüsant fand ich Eric Rohmers "Satire" (ich hätt's Groteske genannt, aber von heut' aus hab' ich auch gut reden) von 1993 schon, der noch einige Zeit in der Arte-Mediathek abrufbar ist, eben auch hinsichtlich der Frage nach den Basisvektoren seinerzeit:

https://www.arte.tv/de/videos/022013-000-A/der-baum-der-buergermeister-und-die-mediathek/

Falls es belieben sollte, viel Vergnügen damit!

Edit: bloß ein "vor" gegen ein "hinter" getauscht

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (15.07.2021 13:13).

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