tertium non datur schrieb am 19.01.2021 16:52:
Dabei ging's um die weit verbreitete Tendenz der Presse, statt (langweiliger) Nachrichten mehr und mehr Reportagen zu bringen. Um diesen Reportagen die von den Redaktionen gewünschte "Authentizität" zu verleihen werden sie gerne aus subjektiven Perspektiven erzählt, wobei die Gefahr groß ist, nicht in's Bild passende Fakten wegzulassen - oder gar, wie bei Relotius, Sachen hinzuzudichten.
(Die Grenzen der Reportage zum Roman werden somit fließend)Ein ZON-Artikel von damals bringt's ganz gut auf den Punkt:
Journalismus: Die Welt als Reportage
Im Journalismus gibt es das fatale Bedürfnis, die Wirklichkeit erzählerisch passend zu machen. Solche Texte wollen nicht aufklären, sondern Trost spenden.
[...] Denn was zählte für die Redaktion bei der Warenanlieferung? Es zählte die "Stimmigkeit". Doch Stimmigkeit ist eine ästhetische Kategorie; sie meint die innere Vollkommenheit eines Kunstwerks, das widerspruchsfreie Verhältnis der Teile zum Ganzen. Stimmig ist eine Komposition, wenn es ihr gelingt, die Welt harmonisch zur Einheit zu bringen.
[...] Schon seit längerer Zeit beobachten Kulturwissenschaftler einen Funktionswandel journalistischer Texte. Journalisten versuchen, die Realität nicht mehr bloß zu beschreiben, sondern sie zu erzählen – und zwar so, dass der Text eine geschlossene Welt entstehen lässt, in die der Leser eintauchen kann, die ihn abholt und umfängt. [...]
- https://www.zeit.de/2019/01/journalismus-reportagen-wirklichkeit-aufklaerung-claas-relotius
(Hervorhebung im unteren Absatz von mir)
Sehr schön. Sehr literarisch.
Wie apart, dass diese watteweiche Umschreibung des Relotiotismus ausgerechnet in einem Blatt veröffentlicht wurde, dessen Herausgeber das Wort "..-Versteher" zum Spott- und Schimpfwort kürte und sich im übrigen dadurch hervor tut, dass er für all das steht, was Relotius mit seinen romanhaften Schilderungen zu fördern versuchte.
Kürzer als der zweifellos enorm kultivierte Zeit-Autor kann man auch sagen:
Es handelt sich bei der Relotius-Presse um Journalismus, der Berichterstattung in den Dienst einer bestimmten politischen Richtung, in den Dienst des herrschenden (oder herrschen wollenden) Narrativs stellt. Das hatten nämlich alle Relotius-Artikel gemeinsam. Und das war es auch, was ihm große Anerkennung einbrachte.