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  • John Lurker

916 Beiträge seit 20.07.2001

Obacht!

Zunächst mal ein (+) für Herrn Neuber. Sein Artikel sticht weit
hervor aus der Masse der Kommentare der "bürgerlichen" Presse, die
von Landeskenntnis anscheinend unbeschwert ist.
Michelle Bachelet ist zwar samt ihrer Familie ein Opfer Pinochets
geworden und hat den bewaffneten Kampf gegen die Diktatur zumindest
verbal unterstützt, hat sich mit unglaublicher Stärke als
Verteidigungsministerin gegen das ultrakonservative Militär
durchgesetzt ("Guten Tag. Ich bin Ihre neue Ministerin. Ich bin
Sozialistin, weiblich, geschieden, habe zwei Kinder von
unterschiedlichen Männern und war nie in der Armee. Ich bin überzeugt
davon, dass wir gut zusammenarbeiten werden.") - aber "Linksaußen"
ist sie, wie Neuber bemerkt, nicht.

Zur Wirtschaft Chiles noch ein paar Anmerkungen: Zwar hat ein
"empresariado" das Sagen, das mehrheitlich Pinochet für den Retter
des Vaterlandes hält, zwar gibt es massive Ungleichheit und
Diskriminierung der im Süden ansässigen Mapuche, zwar hat Chile trotz
umfangreicher interner Proteste den "TLC" unterzeichnet
(Freihandelsvertraag mit USA); es kam jedoch zu umfangreichen
Nachverhandlungen. Die Wirtschaft summa summarum als "neoliberal" zu
bezeichnen, greift jedoch viel zu kurz: Das wichtigste Exportgut, das
Kupfer, bleibt bis auf weiteres zur Hälfte in Staatsbesitz. Um sich
eine Vorstellung dieses Wertes zu machen, reicht die Angabe, dass der
gesamte Rüstungshaushalt sich aus 10% der Kupfer-Umsätze des Staates
finanziert. Ca. 70% sind Kosten, weitere ca. 20% sind
Staatseinnahmen. Natürlich wollten in- und ausländische Unternehmer
und deren Interessenvertreter in der Politik die Minen privatisiert
sehen - das haben jedoch sämtliche Regierungen, Christdemokraten und
Sozialisten, stets verhindert. Seit zwei Jahren steigt der
Weltmarktpreis für Kupfer fast ununterbrochen.

Für ein kleines, aber ausgedehntes Land (4.300 km Küste) hat Chile
große staatliche Anstrengungen unternommen, auch in das hinterletzte
Gebirgskaff noch eine Schule zu setzen. Viele der Lehrer habe ich
kennen gelernt - es sind ausgesprochene Enthusiasten. Die
Uni-Ausbildung ist viel zu teuer, um gerecht zu sein; auch die
staatlichen Universitäten erheben Studiengebühren. Ca. 1/3 der Plätze
sind jedoch durch (großenteils staatliche) Stipendien finanziert.
Interessant ist das Ranking - seit Jahren schneiden hier die
staatlichen Unis (U.de Chile, U. Austral de Valdivia, U. de
Concepción) in den Ingenieur- und Naturwissenschaften erheblich
besser ab als alle privaten. In Jura, Politikwissenschaften und
Wirtschaft ist die U. Católica als größte Private etwa gleichauf.

Mit dem Wasserrecht aus Pinochets Zeiten (jeder, der auf seinem
Grundstück bohrt und eine Quelle findet, muss das anmelden und kann
das Wasser als Eigentum behalten) lässt sich nicht nachhaltig
wirtschaften; deshalb hat der Staat eine mächtige Behörde
eingerichtet, die vor Vergabe des Wasserrechts die Qualität und die
Auswirkungen der Entnahme auf die örtlichen Gesamtvorräte prüft und
des öfteren "nein" sagt. Nachbarschafts-Komitees prüfen die
Einhaltung und die Verteilung vor Ort.

Es gibt einen Mindestlohn von 120.000 Pesos (z.Zt. 188 €). Das ist
fürchterlich knapp, aber erheblich mehr, als ein durchschnittlicher
Favela-Bewohner in Brasilien zur Verfügung hat. Die Tendenz geht zu
einer Anpassung nach oben.

Ein Problem besteht tatsächlich in der aus alten Zeiten stammenden
Bürokratie, die durch die Zweiteilung ihrer Beschäftigten ("de
planta": Im Stellenplan vorhanden und ähnlich persistent und
unkündbar wie im Öffentlichen Dienst Deutschlands; "por honorario":
Scheinselbständigen-Jahresverträge) eine sehr effiziente Keule gegen
innere Kritik hat.

Was mir auf ewig unbegreiflich sein wird, ist die Medienpolitik: Es
gibt zwei große Zeitungen, die etwa mit "FAZ" und "Welt" zu
vergleichen sind, sowie ein paar regionale Räuberblättchen. Im
Fernsehen gibt's fast ausschließlich Müll. Aber trotz andauernder
Reklame für das Lesen und allgegenwärtige, permanente "feria del
libro" kostet ein mickriges Taschenbuch umgerechnet 15 €, das sind
fünfmal mehr als im benachbarten Argentinien.
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