Guter Beitrag, ich werde zunächst erstmal zur realen Bedeutung dieses Hochschullehrers und seinen Positionen recherchieren, um mir eine Meinung zu erarbeiten.
Laut meinen Infos hat er einen Direktzugang zu Xi oder zumindest seinem Umfeld, siehe hier: https://www.jenniferzengblog.com/home/2021/3/21/xin-cairong-on-us-china-relations
Generell ist Jennifer Zeng sehr empfehlenswert. Sie ist eine Aussteigerin und im Exil in den USA (hin und wieder scheint durch, das sie offenbar einige Sachen gesehen hat, die sie gebrochen haben). Ich kenne niemanden mit vergleichbarer Analysequalität. Sie betreibt auch einen YT Kanal. Der Akzent ist etwas gewöhnungsbedürftig, inhaltlich aber top.
Letztlich vertritt Jin jedoch nur eine Position, aus einem Kanon möglicher Positionen in der Außenpolitik. Es ist durchaus möglich, daß er in der Funktion des "bosen Bullen" dazu dient, Verhandlungsräume aufzumachen und dem Gegenüber Grenzen und Konsequenzen aufzuzeigen. Das Spiel machen alle Akteure in der Politik und in Verhandlungssituationen.
Da stimme ich dir zu. Ich bin mir sicher, dass auch in US/EU/DE Denkfabriken in den Hinterzimmern ab und an abgründige Sachen debattiert werden. Im großen Unterschied zu China wird das aber idR nur sehr verklausuliert nach außen getragen. Ich bezweifle allerdings, dass vergleichbare Planspiele existieren wie es Jin im Text andeutet.
An einer Stelle sagt er beispielsweise etwas verklausuliert, dass die KP im Fall eines drohenden Kontrollverlusts über das Land sogar bereit wäre, wieder bei "Phase 1" zu beginnen, dh nochmal eine Kulturrevolution durchzuführen. Ich hoffe, dir ist bewusst, was das bedeutet. Derart totalitäre Sachen gibts im Westen eigentlich nur als Satire (zB Als ich lernte die Bombe zu lieben).
Dein Kollege hat eine Liste mit bekannten Kritikern gepostet, die (vermeintlich) ohne persönliche Konsequenzen die Partei kritisieren dürfen. Bei dem Namen hier hats geklingelt: Xu Youyu. Die engl Wikipedia schreibt über ihn:
Xu is an expert on Western social theories, including Marxism and the Frankfurt School, and a noted historian of the Cultural Revolution. He is one of the signatories of the Charter 08, a manifesto to promote political reform and democratization in China.
Das wärs dann. Die Scheiße, die bei uns gerade wie eine Abrissbirne durch die Gesellschaft rauscht, wird auch bei euch kommen. Da können sie Weibo noch so sehr zensieren. China wird vllt 20 gute Jahre als Weltmacht Nr1 haben.
Ich halte es für ein schwaches Argument in der Debatte, aber ich habe durchaus schon einige Exilchinesen kennengelernt (in DE & anderswo). Quasi keiner von denen würde das Pekinger Modell an ihrem Gastort einführen wollen, eher das Gegenteil. Ich hatte nur einmal eine negative Erfahrung dahingehend gemacht, war wohl ein Spitzel. Du darfst nicht vergessen, es gibt weltweit zig Millionen Exilchinesen, die irgendwann wieder mit Ehepartner, Kindern (Plural!) und neuen Erfahrungen in die Heimat zurückkehren werden. Sie werden der oberen Mittelschicht angehören und sie werden selbstbewusst ihre Forderungen stellen. Das sogar dann, sollte es im Westen in den kommenden Jahren wie befürchtet drastisch bergab gehen und sie mit einer Enttäuschung im Gepäck zurückkehren. Ein paar Sachen - vor allem der Individualismus und die zugehörenden Rechte - werden hängen bleiben. Da kann kein noch so gutes Spitzelnetzwerk etwas ausrichten (oder denke nur, was passiert, wenn aufs Mal 20 Mio Taiwanesen heim ins Reich geholt werden).
Der KP wird letztlich nichts anderes übrig bleiben, als nochmal Tabula Rasa zu machen, wenn sie an der Macht bleiben will (und zwar schön dialektisch: Durch und gegen den Kulturmarxismus). Xu oder einer seiner Schüler wird die Verantwortung dafür tragen, da gehe ich jede Wette ein. Ihr habt keine Chance und ganz ehrlich: Es tut mir jetzt schon leid für euch. An deiner Stelle würde ich mir ein 2. Standbein in Vietnam aufbauen. Dort ist die KP wesentlich pragmatischer und du bist von China aus schnell dort.
Was chinesische Überlegenheitsfantasien betrifft, ja gibt es. Solche Dinge sind meist auf Minderwertigkeitskomplexe zurück zu führen. Im Westen würde man es als individuelles Problem betrachten, aber es hat immer auch eine gesellschaftliche Komponente. China ist wie Deutschland und jedes andere Land nicht Arschloch- und Idiotenfrei, die KP ist es so wenig wie die CDU und andere Organisationen. Denken wir nur an Maßen.
Da hast du recht, wobei ich in Maaßen nicht das Problem sehe. Er wäre nie VS-Chef geworden, wenn etwas anrüchiges an ihm dran wäre. Wer mir eher einfällt bei dem Thema ist Thilo Sarrazin. Als Volkswirt ist er zwar beeindruckend, seine "nüchternen" Ansichten zur Gesellschaftspolitik kommen mE am ehesten noch ran an das, was die KP-Planungseliten vortragen.
Und nochmal: Sarrazin (der sich per se recht gut begründen kann) und andere stehen voll im Feuer der Kritik. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als ihre Ansichten deutlich abzuschleifen und zu differenzieren, um überhaupt von jemandem beachtet zu werden. Außenseitermeinungen sind wichtig und mE auch irgendwelche verrückten VTs, weil sie hin und wieder stimmen. Sie werden aber genau dann gefährlich, wenn sie keiner freien und offenen Debatte ausgesetzt werden. Das ist nicht gegeben im heutigen China.
Dabei ist der Verfeinerungsprozess über die öffentliche Debatte in DE schon völlig gestört und verzerrt und produziert eine Sackgasse nach der anderen. Wie viel schlimmer muss es innerhalb von China sein, wo die stets Schere im Kopf immer mitschreibt und das Mentalitätsbild der Gesellschaft auf Überlegenheitsdenken programmiert wird?