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  • Stephan Geue

mehr als 1000 Beiträge seit 07.08.2011

Re: Alle hierarchischen Gesellschaftssysteme sind autoritär.

Ich habe ja auch nicht behauptet, wir hätten kein autoritäres System.

Ob man jedes hierarchisch strukturierte System als autoritär bezeichnen sollte, stelle ich mal dahin: Hierarchische Gliederungen sind in der Datentechnik sehr verbreitet, und daran ist überhaupt nichts autoritär - sie stellen lediglich eine Ablageordnung dar, die einem bestimmten Zweck vorteilhaft dient.

Nun sind wir natürlich keine Daten, sondern Menschen. Aber z.B. das Subsidiaritätsprinzip kann in einem hierarchischen System dazu dienen, mit einer Entscheidung, deren Konsequenzen nur eine kleine Gruppe betrifft, auch nur diese kleine Gruppe zu behelligen. Der Kopf unmittelbar über dieser Gruppe entscheidet in autoritären Systemen, was die Gruppe zu tun hat. In einem demokratischen System administriert er den Ablauf der gemeinschaftlich zu fällenden Entscheidung.

So weit die Theorie. Wenn in Deutschland jedoch ein(e) Bundeskanzler(in) (und praktisch auch alle anderen Amtsträger auf Bundesebene und nicht nur dort) nicht von allen Menschen gewählt werden, die von seinen/ihren Entscheidungen betroffen sind, mag die Wahl wohl demokratisch sein, die danach folgende Machtausübung ist jedoch autoritär, denn sie betrifft ja nicht nur die Wähler(innen) des Bundeskanzlers bzw. der Bundeskanzlerin.

Wobei auch die Kanzler(innen)wahl hinsichtlich ihres demokratischen Charakters einer Beleuchtung wert wäre:
1. Die Wahl erfolgt nicht durch alle Menschen, die von davon betroffen sein werden.
2. Die Wahl erfolgt noch nicht einmal durch alle wahlberechtigten Menschen, die von davon betroffen sein werden.
3. Die Wahl erfolgt noch nicht einmal durch alle Wähler(innen) (wobei die Nichtwähler bewusst oder unbewusst demokratisch entschieden haben, sich dem Proporz der Wähler anzuschließen, solange es kein Quorum gibt)
4. Die Wahl erfolgt auch nicht durch alle Bundestagsabgeordneten.
5. Die Wahl durch die Bundestagsabgeordneten der Mehrheits(koalitions)parteien ist nicht frei, weil
a) sie ihre Kanditatinnen und Kandidaten nicht selbst aussuchen können
b) sie durch den Fraktionszwang an die Entscheidung ihrer Fraktionsführung gebunden sind
c) es in der Regel ohnehin keine Wahl gibt, da es nur 1 Kandidaten/Kandidatin gibt

Folglich: Die Wahlberechtigten wählen demokratisch eine Partei bzw. eine Parteiengruppe, und deren Spitze bestimmt (autoritär) aus ihrer "Mitte" einen Amtsträger.

Daraus ergibt sich, dass Parteien entgegen ihrem Verfassungsauftrag in zweifacher Hinsicht das demokratische Prinzip brechen und damit natürlich das Vertrauen vieler Menschen in Amtsträger und staatliche Institutionen untergraben.

Nachsatz: Natürlich werden Parlamentarier(innen) hier häufig einwerfen, dass ich gar keine Zeit hätte, über alle Gesetzesvorhaben selbst abzustimmen, die mich betreffen könnten, dass ich nicht die Ahnung davon hätte usw. Gegen die parlamentarische Demokratie habe ich prinzipiell wenig einzuwenden, aber erstens ist parlamentarische Demokratie etwas ziemlich anderes als Parteienherrschaft - die gab es auch in der DDR, die (ebenfalls undemokratische) 5-Prozenthürde war dort eben wesentlich höher -, und zweitens gibt es gegenüber solchen Einwürfen die Idee der liquid democracy. Diese Idee ist so gut, dass sie nicht einfach mit den Argumenten weggewischt werden kann, das sei dann keine anonyme Wahl mehr und computergestützte Wahlen könnten effektiver manipuliert werden.

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