Weder die politischen Nebelkerzen, das medial verbreitete falsche Bild dessen, was Polittheater wirklich sei oder das formale politische System determinieren die autoritäre Gesellschaft. Aus Sicht der Sozialpsychologie gibt es heute fast nur noch Gesellschaftsformen, die auf dem von Fromm untersuchten und anschaulich dargestellten »autoritären Charakter« als standardisiertem Sozialcharakter basieren und diesen dann natürlich auch ständig reproduzieren. Diese »autoritären Gesellschaftsformen« befriedigen sowohl die sadistischen als auch die masochistischen Strebungen des autoritären Charakters. Denn in solchen autoritären Gesellschaften »ist jeder in ein System von Abhängigkeiten nach oben und nach unten eingegliedert. Je tiefer ein Individuum in dieser Hierarchie steht, desto größer ist die Zahl und die Qualität seiner Abhängigkeit von höheren Instanzen. Er muß den Befehlen seines unmittelbaren Vorgesetzten gehorchen, aber dessen Weisungen kommen selbst von der Spitze der Pyramide, d.h. dem Monarchen, dem Führer oder einem Gott.« (Erich Fromm: Analytische Sozialpsychologie, S. 141 ff)
https://books.google.com/books?id=jQuACwAAQBAJ&pg=PT64&dq=%22Abh%C3%A4ngigkeit+von+h%C3%B6heren+Instanzen%22&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwjwj_73j7DbAhWGJJoKHT9bCccQ6AEIJzAA#v=onepage&q=%22Abh%C3%A4ngigkeit%20von%20h%C3%B6heren%20Instanzen%22&f=false
Wer in einer autoritären Gesellschaft seinen sadistischen Impulsen nachgehen will, findet dazu reichlich Gelegenheit, auch wenn er in der Gesellschaftshierarchie nicht gerade oben steht und über Untergebene verfügt. Sogar der sprichwörtliche »einfache Mann« hat noch Objekte zur Verfügung, die schwächer sind als er und die er zu Objekten seines Sadismus machen kann: Frauen, Kinder und Tiere spielen in dieser Hinsicht eine äußerst wichtige sozialpsychologische Rolle. Erweisen sich diese Objekte als nicht ausreichend befriedigend, werden weitere Objekte des Sadismus künstlich geschaffen, indem man einfach verachtenswerte Hierarchiestufen erfindet oder kritiklos übernimmt, Sklaven, gefangene Feinde, »rassenmäßige« Minoritäten oder wie bei uns Hartz-IV-Empfänger und Obdachlose. Je schwieriger die wirtschaftlichen Bedingungen und je größter die damit verbundene Ohnmacht und Hilflosigkeit, desto wichtiger und fataler die Rolle, die solcherart stigmatisierte Menschengruppen für den autoritären Charakter zu spielen haben. Dieses Abreagieren des Autoritären an ausgemachten Schwächeren stärkt seine sado-masochistischen Charakterstruktur. In der autoritären Gesellschaft wird die sado-masoschistische Charakterstruktur durch die ökonomische Struktur erzeugt, welche wiederum die autoritäre Hierarchie notwendig macht.
Die Autorität muß nicht nur mächtig und angsterregend, auf Grund göttlicher und natürlicher Bestimmung notwendig und absolut überlegen sein, sie muß auch ein moralisches Vorbild für die ihr Unterworfenen bilden. Wenn sie von diesen Selbstvergessenheit, Verzicht auf eigenes Glück, Pflichterfüllung bis zum äußersten, unermüdliche Arbeit usw. verlangt, dann muß sie selber diese moralischen Züge aufweisen, um die Über-Ich-Bildung zu ermöglichen und um der Angst vor ihr jenen Doppelcharakter zu verleihen, der erst dadurch entsteht, daß in der Autorität nicht nur die Gewalt gefürchtet, sondern daß sie auch als vorbildhaft, edel und wertvoll geliebt wird. Der einfache Mann muß glauben, daß sein Oberhaupt nichts für sich will, sondern alles für den andern, daß es von morgens früh bis abends spät ununterbrochen arbeitet und sich kaum einen Genuß gönnt. Der Herrscher ist streng, aber gerecht. Durch Geschichtsunterricht, Presse, Fotografien und nicht zuletzt auch, indem – unter Aktivierung der Pietätsgefühle – die verstorbenen Autoritäten zur Personifizierung aller Tugenden gestempelt werden, wird die Autorität in diesem moralisch erhöhten Licht gezeigt. Bereits in der Familie wird die Empfänglichkeit für dieses Bild angelegt. Das Kind soll glauben, die Eltern lügen nie und erfüllten tatsächlich alle die moralischen Forderungen, die sie dem Kind auferlegen. Es soll glauben, daß alles, was die Eltern tun, zu seinem Besten sei und nichts ihnen ferner liege, als in der Erziehung egoistische Ziele zu verfolgen. Gerade in diesem Stück der Familienerziehung zu den moralischen Qualitäten, die das Kind von Anfang an mit der Autorität verknüpft zu sehen lernt, liegt eine der wichtigsten Funktionen bei der Erzeugung des autoritären Charakters. Es gehört gewiß zu den schwersten Erschütterungen im kindlichen Leben, wenn das Kind allmählich erkennt, daß die Eltern in Wirklichkeit den eigenen Anforderungen wenn überhaupt nur wenig entsprechen. Aber indem es durch die Schule und später durch die Presse usw. neue Autoritäten an die Stelle der alten setzt, und zwar solche, die es nicht durchschaut, bleibt die ursprünglich erzeugte Illusion von der Moralität der Autorität bestehen. Dieser Glaube an die moralische Qualität der Autorität wird wirkungsvoll durch die ständige Erziehung zum Gefühl der eigenen Sündhaftigkeit und moralischen Unwürdigkeit ergänzt. Je stärker das Schuldgefühl und die Überzeugung eigener Nichtigkeit ist, desto heller strahlt die Tugend der Oberen. Religion und der strenge Sexualmoral spielen die Hauptrolle bei der für das Autoritätsverhältnis so wichtigen Schuldgefühle.