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mehr als 1000 Beiträge seit 01.08.2017

Re: NATO-Erweiterung monokausale Ursache für den Krieg?

Der Psychater schrieb am 27.02.2023 11:53:

Mir geht das Narrativ der Kriegsgegner auf die Nerven, nur der mögliche Beitritt der Ukraine wäre monokausal Grund für den russischen Angriffskrieg.

Es gibt zahlreiche Argumente dagegen:
1. Die nötige einstimmige Zustimmung im NATO-Bündnis war gar nicht gegeben. Macron und Scholz haben Putin im Februar 2022 versichert, dass sie an ihrer diplomatischen Kontinuität seit 2008 festhalten wollen, dem Beitritt nicht zuzustimmen. Auch ist fraglich, ob alle NATO-Mitglieder dem zustimmen würden. Schon der Beitritt Finnlands und Schwedens ist alles andere als reibungslos.

2. Es war vorauszusehen, dass der russische Angriffskrieg dazu führen wird, dass bisher Nicht-NATO-Mitglieder in die NATO streben. Damit verlängert sich die Grenze Russlands zu NATO-Gebiet um tausende Kilometer. Seltsame Einhegung von NATO-Ambitionen.

3. Die Propaganda Russlands bezeichnet die Ukraine und Belarus als russisches Territorium. Nach alter stalinistischer Art wird dieses Territorium mit Fake-Wahlen und Diktatoren an Moskau gezwungen, gegen den Willen der Bevölkerung.

4. Nach über 70 Jahren Logik der atomaren Abschreckung ist es lächerlich, dass Moskau behauptet die NATO drohe sie militärisch anzugreifen. Das ist falsch. Es gibt keine neue Logik, dass Atomkriege zu gewinnen seien.

5. Die Bedrohung für Moskau ist weniger die NATO, sondern viel eher Farbenrevolutionen. Die Abwahl Lukarschenkos wäre somit für Moskau höchst bedrohlich, genau so bedrohlich, wie es die frei gewählte Kiewer Regierung ist. Freie souveräne Staaten in Nachbarschaft zu Russland haben offensichtlich das Potential die russische Regierung zu zersetzen. Das hat Putin auch schon öffentlich so dargelegt. Die NATO hat damit weniger zu tun. Es ist die UN-Charta, die für Moskau eine Bedrohung ist.

Das, was sich jetzt abspielt, ist eine Eskalation. Russland soll militärisch besiegt werden, indem die Krim rückerobert wird. Dem Kriegsziel von Macron/Scholz, der Rückzug der russischen Truppen auf die Linien von 2021, steht das Kriegsziel gegenüber, über militärische Rückeroberungen in Moskau einen Regimechange zu erwirken, Russland nachhaltig zu schwächen. Es ist völlig ungewiss, welche Folgen die Erreichung dieser Kriegsziele für Europa haben wird.

Das Narrativ, der NATO-Beitritt der Ukraine wäre monokausale Ursache des Krieges, wirkt sehr stark. Demgegenüber steht der Fakt, dass Moskau mit seinem Angriffskrieg und der Krimannektion verbindliche Verträge gebrochen hat, sowie schwerwiegend die UN-Charta verletzt, welche als Friedensordnung derartig mit dem kriegerischen 19. Jahrhundert bricht, dass seit 1950 Europa von einigen Ausnahmen abgesehen, Frieden hatte. Moskau äußert sich dahingehend, dass sie das 19. Jahrhundert zu restaurieren gedenkt. Whataboutism halte ich für Ablenkung und nicht adäquat hinsichtlich der Situation in der Ukraine.

Kiew und Washington scheint das NATO-Narrativ nicht zu kümmern. Dabei berufen sich nicht nur westliche Oppositionelle auf diese Erzählung, auch der globale Süden denkt, der russische Angriffskrieg wäre bloß eine Reaktion auf die NATO-Expansion. Falls das NATO-Narrativ nicht entschärft wird, droht eine weitere Eskalation: Waffenlieferungen von anderen Staaten an Russland, eine Desolidarisierung mit der Ukraine.

Somit hätte die Forderung nach mehr diplomatischer Bemühung zwei Stoßrichtungen: zum Einen bietet es die Chance, den Krieg zu befrieden und Eskalationen zu vermeiden. Zum Anderen würde man Moskau - und damit alle NATO-Narrativ-Gläubigen - dazu zwingen die Hose runterzulassen. Das wäre der Fall, wenn Kiew Moskau erneut anbieten würde auf eine NATO-Mitgliedschaft zu verzichten. Im Gegenzug gibt es Waffenruhe und die russischen Truppen ziehen sich auf die Linie von 2021 zurück.

Da ich nicht an das NATO-Narrativ glaube, vermute ich, dass sich Moskau nicht darauf einlässt. Damit hätte Kiew das NATO-Narrativ widerlegt und diplomatisch Punkte gemacht. So kann Kiew auch für mehr Solidarität werben, eine mögliche Eskalation durch Waffenlieferungen an Russland einhegen, weil mehr Klarheit hinsichtlich der russischen Motive des Angriffskrieges geschaffen würde.

Denkbar wäre selbstverständlich auch, dass Moskau angesichts des internationalen diplomatischen Drucks einknickt. Dann wären die Kriegsziele erreicht, dass die Waffen schweigen und die Situation von 2021 wiederherhestellt wäre.

In meinen Augen wäre ein solches Angebot also eine win-win-Situation für die Ukraine. Denn ob die westlichen Waffenlieferungen auf Dauer die erheblich mindere ukrainische Truppenstärke kompensieren kann, auch angesichts eines gewissen Eskalationspotentials, ist völlig ungewiss. Statt solch einem va-banque plädiere ich für eine diplomatische Offensive der Ukraine.

Ausgesprochen kluge und scharfsinnige Analyse!

In der Tat wäre es für Selenskyj psychologisch geschickter, Verhandlungen permanent anzubieten und wie bereits im März 22 ganz bewusst eine Neutralitätsgarantie offensiv ins Spiel zu bringen. Das bringt dann Putin in massive Erklärungsnöte, wenn er dann trotzdem weiter die Ukraine angreift.

Zuvor müsste die Ukraine ein Schutzabkommen mit den USA und der EU vereinbaren, in dem einer demokratischen Ukraine vollumfängliche Sicherheitsgarantien verbindlich gewährt werden. Da die USA und die meisten EU-Staaten ohnehin NATO-Mitglied sind, würde eine Involvierung eines dieser Länder in eine direkte Kampfhandlung mit Russland automatisch den Artikel 5 der NATO aktivieren, sodass dies die für die Ukraine wesentliche Funktion des Schutzes durch die NATO erfüllen würde, selbst wenn sie selbst formal kein NATO-Mitglied ist.

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