Emrymer schrieb am 09.06.2022 11:16:
aber es ist nunmal Fakt, dass eine unipolare Weltordnung wesentlich friedlicher als eine multipolare Weltordnung ist.
So ähnlich hat Sebastian Haffner in den 80ern auch mal argumentiert: Die großen Eroberer und Despoten haben am Ende mehr für den Frieden erreicht, als die friedlicheren Zeitgenossen, weil unter deren Dominanz die alten Gegensätze einfach keine Rolle mehr spielen. Eine Art "Unterdrückungsdividende" also.
Er ignorierte dabei geflissentlich, dass die alten Gegensätze und Spannungen durch Unterdrückung nicht aufgehoben, sondern nur ihre Austragung verzögert wird. Die meisten, durch Eroberung entstandenen Imperien zerfielen ziemlich rasch, wenn die Repression durch die Zentralgewalt Schwächen zeigte.
Der Dauerzustand eines Imperiums ist normalerweise nicht eine "Pax Romana" sondern eine unendliche Reihe an lokalen Aufständen, Rebellionen und Bürgerkriegen, die die Ordnungsstrukturen errodieren.
Wenn der Hegemon ständig irgendwo zündelt und Kriege anzettelt, ist das alles andere als ein Fakt. Eine bipolare oder multipolare Ordnung, in der es sich keiner leisten kann, einen unnötigen Konflikt zu provozieren, könnte de facto um einiges friedlicher sein als die gegenwärtige Lage.
Zum Ergebnis, dass nur eine multipolare Ordnung dauerhafte Stabilität gewährleisten kann, kam auch der Physiker und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker.
In
Wege in der Gefahr. Eine Studie über Wirtschaft, Gesellschaft und Kriegsverhütung,
Hanser, München 1976
argumentiert er ziemlich überzeugend, dass Systeme aus 3 oder 4 Kontrahenten sehr instabil sind (3 Gegnern verbünden sich immer 2 gegen 1, bei 4 Gegnern ist die Versuchung groß ein instabiles 3er-Bündnis gegen den stärksten Konkurrenten zu bilden), eines aus 2 Gegnern auf ein anhaltendes, ununterbrochenes Austesten der wechselseitigen Grenzen mit der Gefahr einer Eskalation hinausläuft und nur ein System aus 5 annähernd gleichwertigen Kontrahenten einen dauerhaften, einigermaßen stabilen Frieden ermöglicht (nicht garantiert!).
Alle Systeme mit mehr Teilnehmern sind wieder weniger stabil, wenngleich immer noch weiter von der Apokalypse weg als Systeme mit 2 bis 4 Staaten.
Ich habe das Buch aus einer fast vergessenen Ecke meines Bücherschranks gezogen, nachdem mir die Lektüre aktueller strategischer und politischer "Denker" ein nachhaltiges Gefühl der Übelkeit bereitet hatte. Wir waren ganz offensichtlich schon mal bedeutend weiter - intellektuell allemal, aber auch politisch und emotional.
Von von Weizsäcker (und zahlreichen anderen Leuten, die damals in der Friedensforschung aktiv waren), gab es anfänglich sogar Beifall und verhaltene Hoffnung für die sich gerade bildenden Grünen.
Toll, wo die jetzt angekommen sind.
Ach ja: Gleich neben dem verstaubten Weizsäcker standen auch der "Bericht des Club of Rome" (1972) und "Global 2000 - Bericht an den Präsidenten" (1980, den Jimmy Carter in Auftrag gab, um den alarmierenden Bericht des Club of Rome zu prüfen). Wie dieses Wissen über eine ganze Generation einfach verschwinden konnten, wie die Grünen es in diesen 45 Jahren geschafft haben, ihr Image als Umweltpartei zu behalten, sind wirklich Meisterleistungen der PR. Vermutlich haben sie sich mehr mit Lippmann (Public Opinion, NY 1922) und Edward Bernays (Propaganda, NY 1928) beschäftigt.
Denn unter dem Strich sind sie als Umweltpartei mit ihren Leistungen als Friedenspartei und Basisdemokraten fast gleichauf.
microB
Das Posting wurde vom Benutzer editiert (09.06.2022 17:15).