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  • archenoe

mehr als 1000 Beiträge seit 05.02.2004

Hintergrund der aktuellen Hegemonialkonflikte

Die USA sind aus dem europäischen anfangs spätfeudalistisch-absolutistischen und in der Folge frühkapitalistischen Kolonialismus mit anschließendem konkurrenzkapitalistischen Imperialismus zwischen dem 16. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als fast weltweite Hegemonialmacht im inzwischen voll entwickelten finanzkapitalistischen Monopolkapitalismus hervorgegangen.

Hegemonialmacht bedeutete nach Ende des 2. Weltkrieges für die USA Vorherrschaft nicht nur auf dem gesamten amerikanischen Kontinent, sondern auch in Nord-, West- und Südeuropa sowie in Teilen Asiens - finanzpolitisch, weltökonomisch und militärisch.

Die Sowjetunion und als Folge des 2. Weltkrieges osteuropäische Staaten sind ebenfalls Folge des europäischen Kolonialismus und Imperialismus aber im Widerspruch zu dessen kapitalistischer Grundlage als Versuch einer real-sozialistischen Herrschaftsordnung angelegt, die sich wegen Interventionen der kapitalistischen Welt und innerer Widersprüche der Entwicklung von Sozialismus in einem rückständigen, vorwiegend agrarischen Land zu einem politisch diktatorischen System (Stalinismus) entwickelte.

Die sich bereits auf dem letzten Schritt zur absoluten kapitalistischen Hegemonialmacht befindlichen USA und die stalinistische Sowjetunion mussten in einer Zweckallianz eine radikalisierte staatsterroristische Macht, das nationalsozialistische Hitler-Deutschland, ins den 1940er Jahren gemeinsam besiegen, obwohl sie in systemisch maximaler Konfrontation zueinander standen.

Nach diesem Sieg brachten sie sich schnell wieder in Stellung gegeneinander, v.a. mittels atomarer Bewaffnung.

Das "Gleichgewicht des Schreckens" (atomares Patt) kam zwischen 1945 und 1985 zunehmend in Schieflage, weil die USA zusammen mit ihren an sie gebundenen europäischen Bündnispartnern (NATO) ökonomisch der UdSSR und den osteuropäischen Staaten (Warschauer Pakt) derartig überlegen war, dass die Sowjetunion nicht nur den Rüstungswettlauf im Kalten Krieg nicht gewinnen konnte, sondern auch als Gegenmodell gesellschaftlich-politischer Organisation zu wenig attraktive Vorteile gegenüber dem sozialpolitisch gezähmten und konsumistisch völlig überlegenen "Westen" bieten konnte. Folgerichtig setzte Gorbatschow, der Generalsekretär des ZK der KPdSU -1985-91, mit der sogenannten Perestroika (Umwandlung) und Glasnost (Öffnung, Offenheit) schrittweise die Abschaffung der Planwirtschaft, die Entwicklung von Presse- und Meinungsfreiheit, Abrüstungsabkommen mit den USA und insgesamt eine Annäherung an den "Westen" in Gang, indem der "Kampf der Systeme" im Ost-West-Konflikt einseitig beendet wurde. Die Illusion, einen Sozialismus mit Marktwirtschaft installieren zu können, wurde schnell als solche deutlich und 1989/90 löste sich die Sowjetunion auf.

Der Übergang Russlands als Nachfolgestaat der UdSSR/Sowjetunion in ein "normales" bürgerlich-kapitalistisches Land mit formaldemokratischer Legitimation gelang nach ruckartiger ursprünglicher Akkumulation des Privatkapitals (spätestens ab 1991, Jelzin-Phase, Bildung von Oligarchen-Kapital) nur in Ansätzen und wurde Ende der 1990er Jahre schrittweise abgelöst durch eine autokratisch-diktatorische Herrschaftskonstruktion mit faschistoiden, teils faschistischen Zügen, die eng mit der Person Wladimir Putin verbunden ist, der seit 1999 als Präsident der Russischen Föderation (2008 bis 2012 als Ministerpräsident) ununterbrochen an der Spitze des Staates stand und steht.

Parallel dazu geriet die weltkapitalistische Vorherrschaft der USA etwa ab den 1970er Jahren (Beendigung der internationalen Währungsordnung bzw. des Bretton-Woods-Systems (1944) mit Wechselkursbandbreiten, Aufgabe der Golddeckung von Währungen und dadurch frei volatile Währungen) insbesondere durch die tendenziell sinkende Weltprofitrate und damit einhergehend schweren Wirtschaftskrisen sowie sozialen und ökologischen Folgekrisen der menschen- und ressourcenverbrauchenden Kapitalverwertung unter systemisch bedingtem Wachstumszwang sukzessive ins Wanken. Selbst das System der weltweiten Dollar-Leitwährung ist inzwischen nicht mehr weltweit akzeptiert. Das von Fukuyama, (US-amerikanischer Politikwissenschaftler, zeitweise im Außenministerium unter Reagan und später unter George H. W. Bush tätig) ausgerufene "Ende der Geschichte", also der endgültige Sieg der "liberalen Demokratie" (= bürgerliche Formaldemokratie) und der Marktwirtschaft (= Kapitalismus) nach Auflösung der Sowjetunion hat sich als Siegerillusion herausgestellt.

Der Warschauer Pakt wurde aufgelöst, die NATO hingegen nicht. Die Russische Föderation wurde nur kurzfristig (siehe G8, statt G7), aber nie vollständig als gleichberechtigtes Mitglied der kapitalistischen Staatenwelt anerkannt. Die Hegemonialkonflikte kapitalistisch konkurrierender Staaten waren nicht nur nicht beendet, sondern wurden auf krisenkapitalistischer Entwicklungsstufe wieder virulenter.

Zwei Prozesse verschärften diesen Prozess der vertieften weltweiten Hegemonialkonflikte. Einerseits der Aufstieg Südostasiens und speziell Chinas zum "Global Player" und die schrittweise sinkende Akzeptanz der US-amerikanischen Vorherrschaft durch zahlreiche sogenannte Entwicklungsländer (EL), Schwellenländer und speziell durch die BRICS-Staaten, deren Erfahrungen mit der US-Hegemonialmacht nach 1945 vorwiegend negativ waren - wegen der primär durch die USA geführten Kriege und der durch die USA angeführten (über WTO, IWF usw. vermittelt) Freihandelsstrategie, die Abhängigkeit, Benachteiligung und Ausbeutung zur Folge hatten und haben.

Die wankende Top-Weltmacht USA und die in einer teils europäischen, teils asiatischen Großregion in ihrer regionalen Hegemonie labile Russische Föderation (RF) sind ökonomisch auf deutlich unterschiedlichem Level, wenn auch beide kapitalistisch (in zwei Varianten), politisch nach missglücktem Putschversuch von Trump in den USA noch immer relativ weit auseinander - USA, formaldemokratische Präsidialdemokratie, RF, autokratisch-diktatorische Präsidentenherrschaft -, aber beide atomar bewaffnet und in der Lage, den Planeten mehrfach zu verwüsten.

Die USA (und nicht nur Biden) kämpfen um den Erhalt der fast globalen Hegemonie, indem sie eine intensive Zusammenarbeit der EU mit der RF durch Eindämmung der RF und tendenzielles Vasallentum der EU-Staaten zu verhindern sucht, um im anstehenden Hegemonialkonflikt mit China das geostrategische Vorfeld unter Kontrolle zu haben. Russland (und nicht nur Putin) kämpft um Erhalt großregionaler Hegemonie, indem es die USA (und die NATO), so weit es geht, versucht von "seinen" Grenzen fernzuhalten. Beide Kontrahenten haben im widersprüchlichen Prozess von Konfrontation/Aggression und Kooperation, der im Wesen der weltkapitalistischen Konkurrenz verankert ist, zunehmend das Gewicht auf Konfrontation/Aggression verschoben. Russland hat dabei inzwischen ein Mittel gewählt, das in Europa seit 1945 nicht mehr verwendet wurde. Kriegerische Aggression mit dem Ziel zumindest einen Teil der Ukraine zu besetzen und sich einzuverleiben, was Russland mit der Krim bereits gelungen ist. Die zahlreichen kriegerischen Aggressionen der USA (teils mit, teils ohne die NATO) waren nach 1945 nicht auf dauerhafte Landbesetzung oder sogar Einverleibung ausgerichtet, sondern auf Destabilisierung möglicher Gegner (arabischer Raum) oder auf Installation einer US-freundlichen Regierung (Vietnam, Nicaragua usw.) oder auf Strafaktionen wegen des Anschlags auf das WTC (Afghanistan), weil die USA wegen ökonomischer Macht und militärischer Überlegenheit (siehe weltweite US-Militärstützpunkte und NATO-Aktivitäten inkl. NATO-Erweiterung in unmittelbarer Nähe der RF) Krieg mit dem Ziel, Land zu gewinnen, nicht nötig hat.

Dass diese Zielsetzungen auf beiden Seiten ebenso irrational sind, wie der ihnen zugrundeliegende irrationale Selbstzweck des Kapitals und die damit verknüpfbaren irrationalen Machtgelüste in internationaler Konkurrenz, liegt unter obwaltenden Bedingungen auf der Hand. Die "kapitalistische Restvernunft" ist weitgehend abhanden gekommen. Die Eindämmung und (Selbst-)Kontrolle ethnischer, rassistischer, moralisch-ideologischer Überlegenheitsphantasien usw. gelingt kaum noch.

Insofern ist auch die Angst vor einer Auseinandersetzung mit Atomwaffen keineswegs irrational, sondern durchaus eine rationale Befürchtung angesichts vorherrschender Irrationalität.*

*Hier wäre noch vieles mehr auszuführen. Ich führe es nur summarisch an:
- Die RF "verzockt" sich - siehe bisherige Kriegsergebnisse und NATO sowie EU-Reaktionen und -Sanktionen.
- Die USA haben sich "verzockt" - siehe Angriffskrieg der RF.
- Die USA können sich aber dieses "Verzocken" (noch) leisten, weil die EU kontrolliert wird und die Zusammenarbeit EU-RF für längere Zeit unmöglich erscheint.
- Die UNO ist noch weniger als ein Papiertiger. Die Abstimmungsergebnisse zu den Resolutionen gegen Russland sind nur rein zahlenmäßig erfolgreich, nicht nach geopolitischen Gesichtspunkten (siehe die Enthaltungen von China, Indien, Pakistan, Südafrika und nicht weniger Staaten aus Südamerika und Südostasien).
- Brasiliens Lula ist zur Zeit ein Hort der Vernunft. Brasilien stimmt den gegen die RF gerichteten Resolutionen zu, liefert aber keine Waffen und regt Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen an.
- China, selbst in krisenhaften Zuständen befindlich, ist momentan in einer komfortablen Position. Die Staatsführung kann zuschauen und sich als Friedensmoderator positionieren.
- Die Bevölkerung der Ukraine, die Soldaten der Ukraine und Russlands leiden. Es ist nicht ihr Krieg, aber v.a. die Ukrainerinnen und Ukrainer (als Angegriffene) und wahrscheinlich nicht wenige Russinnen und Russen glauben, er sei es.
- Mit dem vorhergehenden Punkt zusammenhängend: Nationalismus ist eine der größten Dummheiten, zu denen Menschen fähig sind.
- Die Bevölkerung Deutschlands und anderer west- und südeuropäischer Staaten ist gespalten. Ungefähr die Hälfte folgt der Kriegsrhetorik ihrer Regierungen und fordert massive Waffenlieferungen an die Ukraine. Ungefähr die Hälfte fordert dagegen die Rückkehr zur Diplomatie sowie Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen bei reduzierten Waffenlieferungen,.
- Abgesehen vom britischen Adjutanten der USA haben nur die osteuropäischen Staaten in der EU und in der NATO einigermaßen nachvollziehbare Interessen an einem besonders harten Sanktionskurs gegen Russland, die "alten" EU-Staaten aber nicht. Dennoch fordern sie, v.a. die deutsche Regierung, einen besonders harten Kurs gegen Russland.
.....

Auch hier muss ich abbrechen, sonst wird es unlesbar lang.

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