Natürlich wäre eine kritische Aufarbeitung des politischen Umgangs mit der Pandemie längst überfällig, nur auf Basis welcher Ebene; einer wissenschaftlichen oder weltanschaulichen? Und wie werden wir es künftig mit weltweiten Seuchen halten? Sollten Infektionszahlen maßgeblich sein oder Todesopfer? Neben der COVID-19-Pandemie dauert etwa auch die AIDS-Pandemie noch immer an; zwei Pandemien, deren politische Eindämmung stark weltanschaulich geprägt war, und aus unterschiedlichen Gründen hat sich in beiden Fällen die anfängliche Panik gelegt.
Von einer HIV-Infektion bedroht sind fast nur junge, sexuell aktive Personen, und für Betroffene bedeutete dies noch bis Ende der 90er-Jahre den sicheren Tod; eine COVID-19-Erkrankung ist hingegen beinahe ausschließlich für Hochbetagte lebensgefährlich, wobei die Letalitätsrate in keinem Lebensalter fünfzig Prozent übersteigt. Selbstverständlich unterscheiden sich diese zwei Infektionskrankheiten sowohl im Übertragungsweg als auch den Schutzmöglichkeiten deutlich, nicht jedoch in dem Umstand, dass mit oder ohne politischem Eindämmungsplan, möglichst schon zu Pandemiebeginn, in beiden Fällen mit vielen Millionen Todesopfern zu rechnen war.
Beiden Pandemiefällen begegneten nominalsozialistische Weltregionen jeweils mit autoritären Zwangsmaßnahmen, freiheitlicher verfasste jedoch mit wenigen Ausnahmen, beispielsweise Schweden oder auch Japan, lediglich zur Eindämmung der COVID-19-Ausbreitung, während man angesichts der HIV-Gefahr noch auf bloße Informationskampagnen vertraut hatte. Dies überrascht auch deshalb, weil sich zumindest theoretisch HIV wie das Pockenvirus ausrotten ließe, da diese Krankheitserreger jeweils auf den Menschen als einzigen Wirt beschränkt sind.
Wann und warum sollte man heute Pandemien anders begegnen als jahrtausendelang in der Menschheitsgeschichte, also nur mittels Isolation tatsächlich Erkrankter und Aufklärung der Gesunden? Was unterscheiden hier Seuchen wie Lepra, Pest, Pocken, sexuell übertragbare oder Atemwegsinfektionen? Und wann müssen es sich Gesunde gefallen lassen, gesellschaftlich wie infektiös Erkrankte, von denen Lebensgefahr ausgeht, betrachtet zu werden? Natürlich sind dies keine wissenschaftlichen Fragestellungen, sondern ausschließlich weltanschauliche! Es geht um unser Bild vom Menschen als sozialem Wesen, eingebettet in ein zivilreligiöses Würdekonzept, das die Verdinglichung eines Individuums zugunsten anderer ächtet, und daneben um die ganz alten Sinnfragen des Lebens, zu denen gehört, wie man Unglück, Krankheit und Tod einordnet.