Ansicht umschalten
Avatar von Leser2015
  • Leser2015

482 Beiträge seit 19.11.2015

Re: Pandemieaufarbeitung müsste unser Menschenbild einschließen

Aus meiner Sicht muss die Grundlage jeder Pandemiebekämpfung eine Weltanschauung sein.

Die Sterberate lag bei HIV-Infektionen über Jahrzehnte bei praktisch hundert Prozent, lediglich die Ansteckungsrate pro Zeiteinheit war wohl viel geringer als bei einem Atemwegsinfekt. Bei der Pest oder den Pocken waren beide Verhältnisse gruselig, und doch fanden sich zu allen Zeiten Freiwillige, die unter Lebensgefahr Erkrankte pflegten. Auch Informationskampagnen zu Seuchen gab es immer, allerdings aus heutiger Sicht auf der Grundlage wissenschaftlich falscher Theorien, während man die leichte Übertragbarkeit von Mensch zu Mensch korrekt einschätzte.

Kurz gesagt, es war oft ähnlich wie zu Beginn der AIDS- oder der COVID-19-Pandemie, doch man griff niemals zuvor zu solchen Zwangsmaßnahmen, was sich nur weltanschaulich erklären lässt.

Der einstige Gottglaube war sicher Fluch und Segen zugleich, was ihn aber nicht grundsätzlich von unserem heutigen Zufallsglauben im Hinblick auf den Erklärwert einer letzten und zugleich so unverstandenen wie unhinterfragbaren Ursache unterscheidet. Die Pest hatte nach früheren Vorstellungen eine Gottheit entweder zur Strafe für Sündhaftigkeit der Menschheit gesandt oder zumindest als Satans Wirken geduldet, während wir heute in solchen Fällen den Zufall anführen.

Der Nachteil des neuen Konzepts Zufall besteht darin, dass damit keine Handlungsempfehlung verbunden ist, die das menschliche Sozialverhalten in Pandemien positiv beeinflussen könnte.

Die Geißlerbewegung konnte wenigstens niemandem schaden, höchstens den Aktiven selbst, indem sie für religiöse Werte und Tugenden eintrat, also gesellschaftlich einer ganz ähnlichen Symbolfunktion diente wie noch kürzlich das Atemschutzmaskentragen im Freien; in beiden Fällen hat vermutlich kaum jemand an die Wirksamkeit der jeweiligen Maßnahme geglaubt, aber Selbstgeißelungen wurden einst wohl nicht von der Obrigkeit angeordnet, sondern waren freiwillige Zeichen gesellschaftliche Solidarität angesichts allgemein empfundener Hilflosigkeit.

Man kann, von antijudaistischen Ausnahmen abgesehen, bezweifeln, dass frühere Pandemien mit ständigen Schuldzuweisungen an ganze Bevölkerungsgruppen einhergingen; wer es sich leisten konnte, versuchte vor dem unbekannten Erreger zu fliehen und die übrigen einander als Menschen zu helfen. War dieser weitgehende Verzicht auf Zwangsmaßnahmen, verbunden mit dem Vertrauen in die solidarische Eigenverantwortung einer Community, aus heutiger Sicht politisch verantwortungslos, rechts, links, religiös oder einfach nur angemessen? Ich habe auch nur die banale Antwort, dass das weltanschaulich verankerte Menschenbild die Grundlage aller Methoden zur Katastrophenbewältigung sein sollte, nicht umgekehrt, und diese Debatte fehlt.

Bewerten
- +
Ansicht umschalten