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  • Leser2015

482 Beiträge seit 19.11.2015

Re: Pandemieaufarbeitung müsste unser Menschenbild einschließen

Hagjo1 schrieb am 12.03.2024 06:25:

Leser2015 schrieb am 12.03.2024 00:08:

Ich habe auch nur die banale Antwort, dass das weltanschaulich verankerte Menschenbild die Grundlage aller Methoden zur Katastrophenbewältigung sein sollte, nicht umgekehrt, und diese Debatte fehlt.

Ob die s.g. Katastrophenbewältigung damals effektiv u./o. der beste Kompromiss für unsere Gesellschaft war, sollte man tatsächlich aufarbeiten. Da wurden bestimmt Fehler gemacht.
Ob allerdings die komplette Rücksicht auf ein weltanschaulich verankertes Menschenbild die Grundlage ausgerechnet bei der Bekämpfung einer Pandemie bilden sollte, möchte ich aber stark anzweifeln.
Es wäre ja völlig aburd, wenn man aufgrund dieser Rücksicht akzeptieren würde, dass unsere Gesellschaft einer Pandemie quasie genauso begegnen wird, wie die Leute der Pest vor 500 Jahren... ...Vor Corona konnte ich mir so eine Aberwitzigkeit noch nicht mal vorstellen.

Wir können nur froh sein, dass es heute in unseren Städten z.B. schon Kanalisationen gibt. Würde man heute die Kanalisierung der Städte beschließen, würden wesentliche Teile der Bevölkerung aufgrund der finanziellen Belastung und den Einschränkungen beim Bau auf die Straße gehen und "klar nachweisen" können, dass der Ausbau absolut keinen Nutzen hat und nur einer Idee der Baulobby entstammt. Das machen sie aus einer Weltanschauung heraus, die in meinen Augen eigentlich nichts anderes ist, als eine "vereinigte Gartenzaunbewegung" ohne irgendein gesellschaftliches Ziel.

Wir müssen uns in diesem Punkt nicht einig sein, nur sehe ich nicht, wie man ohne einen weltanschaulichen Bezugspunkt bei wirklich existenziellen Fragestellungen, zu denen die Eindämmung einer Pandemie gewiss zählt, auskommen könnte. Hierhin gehörte beispielsweise, ob es für ein Individuum eine soziale Pflicht gibt, möglichst lange zu leben, und vor diesem Hintergrund die Rolle des Staates beim Lebensschutz, was aktuell auch im Kontext einer gesetzlichen Regelung zur Suizidassistenz kontrovers diskutiert wird.

Meines Wissens besteht in unserer Gesellschaft nur hinsichtlich der grundlegenden Bedeutung des zivilreligiösen Konzepts der Menschenwürde überhaupt irgendein weltanschaulicher Konsens, doch selbst diese Idee einer naturgegebenen und verhaltensunabhängigen Würdekonstante, die allen Individuen gemeinsam ist, erklärt sich im Alltag nicht von selbst, sondern ist auslegungsbedürftig.

Das Bundesverfassungsgericht hat im Unterschied zu früheren Anwendungsfällen gerade in seinen Entscheidungen zum Umgang mit der Pandemie eine Stellungnahme zum mittels des Würdekonzepts begründeten Instrumentalisierungsverbot eines Inviduums, etwa durch eine der drei staatlichen Gewalten, und folglich zur verfassungsrechtlich einschlägigen Objektformel (https://de.wikipedia.org/wiki/Objektformel) komplett vermieden. Genau diese Objektformel müsste als weltanschaulicher Bezugspunkt die Grundlage für alle denkbaren Methoden zur Eindämmung einer x-beliebigen Infektionskrankheit darstellen, denn andernfalls heiligte schnell der gute Zweck jedes Mittel.

Wenn die Rechte eines Individuums gegenüber dem Wohl eines Kollektivs stets zurückzutreten hätten, so könnte man Kranke und deren Kontaktpersonen auch einfach sofort töten und verbrennen, um auf diese Weise Gesundheit, Freiheit und Frieden in einer Gesellschaft zu fördern, die sich bei einem solchen Vorgehen durchaus auf die Wissenschaft berufen könnte, denn in der Massentierhaltung handhabt man es ähnlich.

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