Auweia, und Respekt, daß Sie hier auf eines der "most arcane concepts" der Immunologie gestossen sind. Sicher 95 % der Immunologen würden dieses Konzept nicht erklären können oder schreiend weglaufen, und auch ich hätte es im Rest meines Lebens nicht mehr vermisst. Teil dieses Einschätzungs-Problems liegt wie auch der dramatische Name darin begründet, daß dieses Konzept aus der spekulativen Immunologie der Nachkriegszeit stammt, als sehr phantasievoll herumspekuliert wurde, wie denn Immunität so funktionieren könnte, ohne aber irgendeinen Fitzel von Information über zelluläre, strukturelle und molekulare Grundlagen der Immunfunktionen zu haben (Beispiel: Lymphozyten wurden erst Mitte der 50er Jahre als Träger der adaptiven Immunität identifiziert und standen bis dahin wörtlich in Haematologie-Lehrbüchern als "langweiliger Zelltyp" beschrieben). Aber spekulieren konnte man damals richtig, richtig gut, diese Sorte produktive Herumspinnerei ist mit den datengetriebenen Detail-Kenntnissen verlorengegangen. Dabei ist natürlich auch eine Menge Unsinn erdacht worden, der kein tragfähiges Konzepte brachte, im Nebel der Vergangenheit verloren gegangen ist, und von dem man bei Nachlesen in der Jetztzeit schon dankbar ist, daß ein barmherziges Mäntelchen des Vergessen darübergebreitet wurde. Man hat auch beim Argumentieren auf hohen Abstraktions-Leveln ein bißchen vorsichtig zu sein, und mein Nachdenken beim Schreiben hier lässt mich erstmals mein Unbehagen mit Vanden Bossches Denkstil präzisieren, der mich sehr an diese hochabstrahierenden Immunologie-Diskussionen erinnert mit ihrem Risiko, dann doch ein paar wichige Grundlagen aus dem Auge zu verlieren.
Kurz zu der immunologischen Idee dahinter: OAS bezieht sich auf einen "Konzeptfehler" beim immunologishen Gedächtnis, bei dem ein Erstkontakt mit einem Antigen (und das ist wohl tatsächlich unabhängig von einer Infektions- bzw. einer experimentellen Immunisierungs- = Impf-Situation zu sehen) als "Sündenfall" das immunologische Gedächtnis zu sehr auf dieses Erst-Antigen prägt und späterer Kontakt mit Antigenvarianten zu starke Recall-Antworten auf das erste Antigen und zu schwache Antworten auf die neuen Antigene des neuen z.B. Erregerstammes erbringt. Ja, hmmm, Schulternzucken, ja, kann passieren, so what, isso... Ich erlaube mir dazu ketzerisch + ohne Antwort zu denken, ob das nicht manchmal nur ein Laborphänomen in sehr speziellen Kombinationen von Antigen + Inzuchtmausstämmen ist und ob das auch in einer ausgezüchteten Menschen-Population passiert. Im echten Leben wird das von (zu) vielen schmutzigen Details der Erreger-Antigene, ihres Wegs in den Körper und hin in die lymphatischen Organe zum Auslösen einer Immunantwort und dem Zellgeflecht vom naiven Lymphozyten hin zu Effektorzellen und Gedächtniszellen abhängen. Vielleicht kann man das irgendwann mal steuern, jetzt jedenfalls nicht.
Handlungs-Anweisung sehe ich daraus nicht ableitbar. Auf Impfungen jetzt verzichten, um später bessere Abwehr von Varianten zu haben (was irgendwie auch bei Vanden Bossche heraushörbar ist, aber für mich dennoch aus einer leicht anderen Argumentationsschiene kommt)? Wie bitte? Und dabei kein Blick auf alles was in der Zwischenzeit passiert und gerade über eine vermeidbare Irrsinnszahl von Infektionen dem Virus die Steilvorlage zur Variantenentstehung gibt? Bin ich nicht dabei.
Wir hatten ja vor ein paar Wochen den sehr langen Thread zu dem Bossche-Interview und haben, so meine Erinnerung, im Thread seine Vorstellungen zu der Rolle natürlicher Immunität und einer diese Immunität möglicherweise anregenden "Immunisierung"/Stimulierung exekutiert. Ich habe jetzt das von Ihnen verlinkte Interview überflogen, mich wie oben erwähnt an die alten Immunsystem-Theoretiker erinnert gefühlt, und denke jetzt tatsächlich, daß sein Bild von vielen immunologischen Abläufen zu statisch ist und das dynamische Zellgeschehen in den Immunantworten einfach nicht richtig berücksichtigt:
- sein Bild von Viren ist klassisch und recht statisch (und er könnte wohl nicht gut mit der CoV-2-Eigenheit der infektiösen Weitergabe vor ersten Symptomen umgehen, die viele Denkgewohnheiten zu Viren aushebelt);
- Virus-Varianten kommen für ihn nur durch selektiven Druck nach Impfungen zustande;
- die dynamische Entstehung von Virus-Varianten und abgeleiteten Populationen auch unter den Selektionsdruck-Bedingungen der normalen + akut laufenden + ungeimpften Infektions-Immunantworten kommt in seinem Denken überhaupt nicht vor;
- die dynamischen Effekte z.B. in der B-Zell-Population und den entsprechenden Antikörpern, die Rolle der neutralisierenden Antikörper, die Beobachtungen, daß nach Infektion und Genesung die Reifung der Antikörper weitergeht und z.B. bei nicht so guter Variantenabwehr 1 Monat nach Genesung sich 6 Monate danach eine verblüffend verbesserte Spezifität für Spike-Varianten ergeben kann: Fehlanzeige.
Ich werde mich nicht viel mehr mit Vanden Bossche beschäftigen wollen. Hier nur noch ein letztes zu dem bei ihm auch anklingenden "eigentlich ist die natürliche Immanabwehr schon ganz gut + gut genug gegen eine COVID-Infektion", zu dem ein bißchen ausgeholt werden muß. Es gibt ja - auch hier sichtbar - eine ungeheure Streiterei über die besten Impfansätze. Manche Old-Schooler wollen klassisch eine inaktivierte Corona-Virus-Totvakzine favorisieren. Ok, ignorieren wir mal die notwendige Logistik. Im chineischen Sinovac-Impfstoff steckt so etwas drin, und zwar inaktiviiert durch beta-Propiolacton (Details sind unwichtig). Wichtig ist aber, daß bei elektronenmikroskopischer Analyse sehr viele Spike-Proteine auf dem Virus in die sogenannte postfusions-Form gewechselt sind, und demzufolge das Impfantigen gerade nicht die für Bildung infektionsneutralisierender Antikörper zwingend erforderliche präfusions-Konformation enthält. Das hat einen hohen Erklärungswert dafür, daß von Sinovac ein bisher nur mauer Impfschutz berichtet wird. Im Grunde genommen haben wir mit Sinovac das Experiment, was die gesamte zelluläre T-Zell-Immunität gegen alle viralen Proteine plus der nicht-neutralisierende Teil der Antikörper-Antwort zu leisten in der Lage ist, nämlich nicht so toll viel, und was die neutraliserende Antikörper da noch drauf setzen kann an Impfschutz. Ich weiß ja, worauf ich eher setzen würde, und ich werde diese Story noch bei anderen Gelegenheiten hier verargumentieren.