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  • morgen Stern

988 Beiträge seit 03.10.2015

vermythend

Adornos Deutungsversuche des Wut-Begriffs irgendwo im Graubereich zwischen Phylogenetik, Psychoanalyse und Geschichtsphilosophie kulminieren in den Begriff der Ideologie:

Das Spinozistische sese conservare, die Selbsterhaltung, ist wahrhaft Naturgesetz alles Lebendigen. Es hat die Tautologie von Identität zum Inhalt: sein soll, was ohnehin schon ist, der Wille wendet sich zurück auf den Wollenden, als bloßes Mittel seiner selbst wird er zum Zweck. Diese Wendung ist schon die zum falschen Bewußtsein; hätte der Löwe eines, so wäre seine Wut auf die Antilope, die er fressen will, Ideologie.

(Adorno, Negative Dialektik, ca. 25. Absatz in II Weltgeist und Naturgeschichte, Exkurs zu Hegel, Seite gerade nicht zur Hand, Fett-Hervorhebungen hier und im Folgenden von mir)

Mir erschienen Löwen in Tierdokumentationen meist zu souverän im Sprung auf Antilopen, um diese schillernde Definition des Ideologie-Begriffs einfach so wegzunicken. Stellen wir uns aber einen Löwen vor, dessen Jagdglück schon etliche Tage zu wünschen über ließ, dem die Antilopen immer wieder und wieder entwischten, der unterdessen von schmerzendem Hunger gequält und entkräftet der Antilopenherde auflauert, ergibt das Bild Sinn.

Diese Bemerkung aus Adornos Spätwerk der späten 1960er greift auf zentrale Gedanken seiner Arbeiten im US-Exil während world war ii zurück, auf die wohl eher von ihm als von Horkheimer geschriebene Dialektik der Aufklärung und die Minima Moralia. In letzterer lautet bspw. die 23. Reflexion aus dem beschädigten Leben:

Plurale tantum. - Wenn wirklich, wie eine zeitgenössische Theorie lehrt, die Gesellschaft eine von Rackets ist, dann ist deren treuestes Modell gerade das Gegenteil des Kollektivs, nämlich das Individuum als Monade. An der Verfolgung der absolut partikularen Interessen des je Einzelnen läßt sich das Wesen der Kollektive in der falschen Gesellschaft am genauesten studieren, und wenig fehlt, daß man die Organisation der auseinander weisenden Triebe unter dem Primat des realitätsgerechten Ichs von Anbeginn als eine verinnerlichte Räuberbande mit Führer, Gefolgschaft, Zeremonial, Treueid, Treubruch, Interessenkonflikten, Intrigen und allem anderen Zubehör aufzufassen hat. Man muß nur einmal Regungen beobachten, in denen das Individuum energisch gegen die Umwelt sich geltend macht, wie etwa die Wut. Der Wütende erscheint stets als der Bandenführer seiner selbst, der seinem Unbewußten den Befehl erteilt, dreinzuschlagen, und aus dessen Augen die Genugtuung leuchtet, für die vielen zu sprechen, die er selber ist. Je mehr einer die Sache seiner Aggression auf sich selbst gestellt hat, um so vollkommener repräsentiert er das unterdrückende Prinzip der Gesellschaft. In diesem Sinn mehr vielleicht als in jedem anderen gilt der Satz, das Individuellste sei das Allgemeinste.

(zitiert nach https://copyriot.com/sinistra/reading/agnado/minima.html)

Die gesellschaftlich ins Private abgespaltene Selbsterhaltung sucht in Wut, Aggression auf ihre Kosten zu kommen.

Intuitiv einleuchtender für die meisten von uns Männer wird die Versagung des notgeilen inneren Drängens zur Wut auf alle potentiellen Objekte der Begierde und aus der Wut entwächst die Abwertung der Objekte:

Der Affekt, der zur Praxis der Unterdrückung paßt, ist Verachtung, nicht Verehrung, und stets hat in den christlichen Jahrhunderten hinter der Nächstenliebe der verbotene zwangshaft gewordene Haß gegen das Objekt gelauert, durch das die vergebliche Anstrengung stets wieder in Erinnerung gerufen ward: das Weib. Es hat für den Madonnenkult durch den Hexenwahn gebüßt, der Rache am Erinnerungsbild jener vorchristlichen Prophetin, das die geheiligte patriarchale Herrschaftsordnung insgeheim in Frage stellte. Das Weib erregt die wilde Wut des halb bekehrten Mannes, der sie ehren, wie der Schwache überhaupt die Todfeindschaft des oberflächlich zivilisierten Starken, der ihn schonen soll. Sade macht den Haß bewußt. »Ich habe niemals geglaubt«, sagt Graf Ghigi, der Vorsteher der römischen Polizei, »daß aus der Verbindung von zwei Körpern jemals die von zwei Herzen hervorgehen könne. Ich sehe in dieser physischen Verbindung starke Motive der Verachtung... des Abscheus, aber kein einziges der Liebe.«[169] Und Saint-Fonds, der Minister, ruft, als ein von ihm, dem königlichen Vollzugsbeamten, terrorisiertes Mädchen in Tränen ausbricht: »Das ist es, wie ich die Frauen gern habe ... warum kann ich sie nicht auf Grund eines einzigen Wortes samt und sonders auf diesen Zustand reduzieren!«[170] Der Mann als Herrscher versagt der Frau die Ehre, sie zu individuieren. Die Einzelne ist gesellschaftlich Beispiel der Gattung, Vertreterin ihres Geschlechts und darum, als von der männlichen Logik ganz Erfaßte, steht sie für Natur, das Substratum nie endender Subsumtion in der Idee, nie endender Unterwerfung in der Wirklichkeit. Das Weib als vorgebliches Naturwesen ist Produkt der Geschichte, die es denaturiert.

(zitiert nach https://giuseppecapograssi.files.wordpress.com/2013/08/dialektik_aufklaerung.pdf, dort S. 47)

Jede Frau insbesondere dann eine Schlampe, wenn ihr der Männerwunsch nicht unmittelbar Befehl ist, sich dann hinzugeben, wenn es dem Drängen des männlichen Eros behagt.

Ich kann das hier nur anreißen. Die unmittelbar der Selbsterhaltung dienende Wut des Löwen auf die Antilopen, die gesellschaftlich vermittelte Wut der Individuierten gegen alles, was ihnen den gerechten Anteil versagt, die notgeile Wut der Männer auf die Frauen zumindest als Katalysator der Arterhaltung sind zentrale quasi-naturgeschichtliche Motive für Adornos Begriff von Ideologie, exemplarisch spezifiziert im zentralen Begriff der Elemente des Antisemitismus, dem der pathischen Projektion:

Die psychoanalytische Theorie der pathischen Projektion hat als deren Substanz die Übertragung gesellschaftlich tabuierter Regungen des Subjekts auf das Objekt erkannt. Unter dem Druck des ÜberIchs projiziert das Ich die vom Es ausgehenden, durch ihre Stärke ihm selbst gefährlichen Aggressionsgelüste als böse Intentionen in die Außenwelt und erreicht es dadurch, sie als Reaktion auf solches Äußere loszuwerden, sei es in der Phantasie durch Identifikation mit dem angeblichen Bösewicht, sei es in der Wirklichkeit durch angebliche Notwehr. Das in Aggression umgesetzte Verpönte ist meist homosexueller Art. Aus Angst vor der Kastration wurde der Gehorsam gegen den Vater bis zu deren Vorwegnahme in der Angleichung des bewußten Gefühlslebens ans kleine Mädchen getrieben und der Vaterhaß als ewige Ranküne verdrängt. In der Paranoia treibt dieser Haß zur Kastrationslust als allgemeinem Zerstörungsdrang. Der Erkrankte regrediert auf die archaische Ungeschiedenheit von Liebe und Überwältigung. Ihm kommt es auf physische Nähe, Beschlagnahmen, schließlich auf die Beziehung um jeden Preis an. Da er die Begierde sich nicht zugestehen darf, rückt er dem anderen als Eifersüchtiger oder Verfolger auf den Leib, wie dem Tier der verdrängende Sodomit als Jäger oder Antreiber. Die Anziehung stammt aus allzu gründlicher Bindung oder stellt sich her auf den ersten Blick, sie kann von den Großen ausgehen wie beim Querulanten und Präsidentenmörder oder von den Ärmsten wie beim echten Pogrom. Die Objekte der Fixierung sind substituierbar wie die Vaterfiguren in der Kindheit; wohin es trifft, trifft es; noch der Beziehungswahn greift beziehungslos um sich. Die pathische Projektion ist eine verzweifelte Veranstaltung des Ichs, dessen Reizschutz Freud zufolge nach innen unendlich viel schwächer als nach außen ist: unter dem Druck der gestauten homosexuellen Aggression vergißt der seelische Mechanismus seine phylogenetisch späteste Errungenschaft, die Selbstwahrnehmung, und erfährt jene Aggression als den Feind in der Welt, um ihr besser gewachsen zu sein.

(zitiert nach https://giuseppecapograssi.files.wordpress.com/2013/08/dialektik_aufklaerung.pdf, dort S. 80)

Dass wir müde, abgekämpft, erschöpft von Covid sind, ist kaum zu bezweifeln. Dass wir wütend sind, tritt ebenfalls deutlich hervor. Mütend also.

Doch wogegen richtet sich die Wut? Gegen das schlechte Polit-Management? Gegen eine blinde Naturmacht, der wir ausgeliefert sind? Gegen zweite oder erste Natur mit anderen Worten, Gesellschafts- oder Naturzusammenhang?

Ich will eine andere Lesart vorschlagen und gebe dafür erstmal Adornos dichte Aneinanderstellung einer Katastrophe erster Natur, das Erdbeben von Lissabon, und einer Katastrophe zweiter Natur, der Shoah:

Das Erdbeben von Lissabon reichte hin, Voltaire von der Leibniz'schen Theodizee zu kurieren, und die überschaubare Katastrophe der ersten Natur war unbeträchtlich, verglichen mit der zweiten, gesellschaftlichen, die der menschlichen Imagination sich entzieht, indem sie die reale Hölle aus dem menschlich Bösen bereitete. Gelähmt ist die Fähigkeit zur Metaphysik, weil, was geschah, dem spekulativen metaphysischen Gedanken die Basis seiner Vereinbarkeit mit der Erfahrung zerschlug. Noch einmal triumphiert, unsäglich, das dialektische Motiv des Umschlags von Quantität in Qualität. Mit dem Mord an Millionen durch Verwaltung ist der Tod zu etwas geworden, was so noch nie zu fürchten war. Keine Möglichkeit mehr, daß er in das erfahrene Leben der Einzelnen als ein irgend mit dessen Verlauf Übereinstimmendes eintrete.

(Adorno, Negative Dialektik, erster Absatz von III Mediationen zur Metaphysik, 1, Seite gerade nicht zur Hand)

Vermutlich war es in den 1960ern, als der Menschheit dämmerte, dass die Atomarsenale prall genug gefüllt waren, um nicht nur die Menschheit als Ganze, sondern mit ihr auch den zumindest allergrößten Teil der Biosphäre zu vernichten. Meinereiner ist mit diesem Bewusstsein bereits als Kleinkind aufgewachsen. Auch das wäre noch klar zuzuschlagen: Keine Katastrophe der ersten, sondern der zweiten Natur. Im Anthropozän aber verschwimmt die Differenz: Mit Klimaerwärmung, Nanoplastik überall in Luft, Wasser und Erde oder den Schlacken von Industrie, Agrarwirtschaft und Pharmazie in übervielen Ökosubsystemen droht uns eine Katastrophe sowohl der zweiten als auch der ersten Natur, des von Gesellschaft nicht mehr losgelöst denkbaren Naturzusammenhangs, ein Amalgam wie der Neologismus mütend.

Solange der medizinisch-pharmazeutische Komplex den Gegenbeweis nicht zu erbringen in der Lage ist, bleibe ich dabei, dass die geschichtsphilosophisch steile Spekulation und vielleicht eher spirituelle Intuition plausibler als alles positivistische Herumdeuteln und -doktorn an Covid ist, nach der Gaia uns in Covid ein "Ich gehöre nicht euch, ihr aber (zu) mir" zuraunt. Denn das passt zu Gretas Prophetie vor der UN am 23.09.2019: "And change is coming - whether you want it or not." (vgl. z. B. https://www.youtube.com/watch?v=qWEpTok6AJo&t=221s) Ich weiß nicht mehr, ob wir das damals live sahen oder ein paar Stunden später in der Medienberichterstattung, ich erinnere mich aber daran, dass meine Frau und mich dabei Schauder durchfuhren und meine Frau unmittelbar darauf hinwies, dass da kein 16-jähriges Mädchen gesprochen hatte, sondern etwas anderes durch dieses hindurch.

Wenn dem so sein sollte, dann ist unsere Wut nicht die des Löwen, der Individuen oder der notgeilen Männer. Eine triftigere Analogie wäre die des Revierkampfes, Bulle gegen Bulle, Alien gegen Sigourney, Mafiabande gegen Mafiabande. Da Gaia aber das Revier selbst ist, gibt's da keinen Sieg für uns zu erhoffen. Stattdessen sind wir irgendwo noch fern der Einsicht, dass wir uns unterordnen oder das Revier räumen müssen, aber schon abgekämpft, entkräftet, geschunden an Menschenleben und Wirtschaftskraft, gleichwohl an der einzigen Option festhaltend, dass der Sieg bloß unser sein könne. Verbissen richtet sich unsere Wut gegen den unsichtbaren Opponenten und damit bloß gegen uns selbst.

Auch der Begriff der Verbissenheit ist schillernd in den drei genannten Werken Adornos:

Gerade in dem Nachdruck auf bloßem Dasein, das so stark und groß sein soll, daß keine subjektive Intention etwas darüber vermag - und dieser Nachdruck entspricht der wahren Ohnmacht der Kunst gegenüber der Gesellschaft heute - versteckt sich die Verklärung, gegen welche die Nüchternheit gestikuliert. Dasein wird zu seiner eigenen Ideologie durch die Zauberei seiner treuen Verdopplung. So webt sich der technologische Schleier, der Mythos des Positiven. Wird aber das Reale zum Bild, indem es in seiner Partikularität dem Ganzen so gleicht, wie ein Fordwagen allen anderen derselben Serie, so werden umgekehrt die Bilder zur unmittelbaren Realität. Zum vielberufenen ästhetischen Bildbewußtsein kommt es nicht mehr. Jede Leistung der Phantasie, die Erwartung, daß sie von sich aus die disjekten Elemente des Wirklichen zu dessen Wahrheit versammle, wird als ungebührliches Ansinnen fortgewiesen. Phantasie wird durch die automatisch verbissene Kontrolle darüber substituiert, ob auch die letzte imago, die zur Verteilung gelangt, das genaue, sachkundige und zuverlässige Abbild des entsprechenden Stückchens Wirklichkeit sei

(zitiert nach https://giuseppecapograssi.files.wordpress.com/2013/08/dialektik_aufklaerung.pdf, S. 110 dort)

Was immer am Bürgerlichen einmal gut und anständig war, Unabhängigkeit, Beharrlichkeit, Vorausdenken, Umsicht, ist verdorben bis ins Innerste. Denn während die bürgerlichen Existenzformen verbissen konserviert werden, ist ihre ökonomische Voraussetzung entfallen. Das Private ist vollends ins Privative übergegangen, das es insgeheim von je war, und ins sture Festhalten am je eigenen Interesse hat sich die Wut eingemischt, daß man es eigentlich ja doch nicht mehr wahrzunehmen vermag, daß es anders und besser möglich wäre. Die Bürger haben ihre Naivetät verloren und sind darüber ganz verstockt und böse geworden. Die bewahrende Hand, die immer noch ihr Gärtchen hegt und pflegt, als ob es nicht längst zum »lot« geworden wäre, aber den unbekannten Eindringling ängstlich fernhält, ist bereits die, welche dem politischen Flüchtling das Asyl verweigert. Als objektiv bedrohte werden die Machthaber und ihr Anhang subjektiv vollends unmenschlich. So kommt die Klasse zu sich selbst und macht den zerstörenden Willen des Weltlaufs sich zu eigen. Die Bürger leben fort wie Unheil drohende Gespenster.

(zitiert nach https://copyriot.com/sinistra/reading/agnado/minima.html, 14. Reflexion)

Das allgemeine Prinzip ist das der Vereinzelung. Sie dünkt sich das unbezweifelbar Gewisse, verhext darauf, um den Preis ihres Daseins nicht dessen innezuwerden, wie sehr sie ein Vermitteltes sei. Daher die populäre Verbreitung des philosophischen Nominalismus. Je individuelles Dasein soll den Vorrang haben vor seinem Begriff; Geist, das Bewußtsein von Individuen, soll nur in Individuen sein und nicht ebenso das Überindividuelle, das in ihnen sich synthesiert und wodurch allein sie denken. Verbissen sperren die Monaden sich ihrer realen Gattungsabhängigkeit ebenso wie dem kollektiven Aspekt all ihrer Bewußtseinsformen und -inhalte: der Formen, die selbst jenes Allgemeine sind, das der Nominalismus verleugnet, der Inhalte, während doch dem Individuum keine Erfahrung, auch kein sogenanntes Erfahrungsmaterial zufällt, das nicht vom Allgemeinen vorverdaut und geliefert ist.

(Adorno, Negative Dialektik, ca. 6. Absatz in II Weltgeist und Naturgeschichte, Exkurs zu Hegel, Seite gerade nicht zur Hand)

Vorschlagen würde ich daher, dass wir nicht mütend sind, sondern ob unserer Verbissenheit (auch Ge- und Zerbissenheit): vermütend, Amalgam von müde, wütend und verbissen.

Weil aber erstens die phonetische Nähe zu vermythend als anderer Ausdruck für mythisierend oder mythologisiernd auf der Hand liegt, zweitens meine Argumentation wesentlich auf Adornos Dialektik von Ratio und Mythos gründet und drittens offenkundig ist, dass schon der Gaia-Begriff, mehr noch meine konkret geschichtliche Deutung davon im Kontext ein moderner Mythos ist, schlage ich, wenn schon, denn schon: vermythend für das Amalgam aus abgekämpfter Müdigkeit, ins Leere nur gegen uns selbst zielender Wut in zunehmender Verbissenheit und ins Mythische reflektierte Vernunft vor.

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