Emrymer schrieb am 10.04.2021 14:04:
Damit ist allerdings jedes Gespräch ein in sich irrationales Geschehen. Sprache ist fluide - jeder kann schließlich alles meinen.
Wieso irrational? Auch das, was Julien oben geschrieben hat, ist Rationalität. Rational heißt doch nur, daß etwas auf der Ebene von Symbolik stattfindet, mit der Ratio, also dem Verstand gearbeitet wird. Es meint nicht z.B. das ökonomische Rationalisieren oder eine wie immer behauptete objektive Überlegung. Nichts ist objektiv gegeben, Wahrnehmung ist immer Konstruktion. Welches subjektiv wahrnehmende Wesen sollte denn bestimmen, was objektiv gegeben ist? Objektivismus ist Machtstreben: »Ich sage euch, was objektiv ist, und wer das nicht so wahrnimmt, wie ich es sage, der irrt, der muß ausgegrenzt, zensiert, beseitigt werden.« So denkt doch heute fast jeder Hampel, der keine Ahnung von Wahrnehmung und Kognition hat.
Würde Ihr Gehirn nicht aus den Sinnesreizen konstruieren, was Sie dann auf Ihrer inneren Leinwand sehen, würden Sie gar nichts erkennen können. Und ohne Ihre Erziehung, in deren Verlauf Sie erlernen, wie sie was zu interpretieren haben, wären Sie wie das Kind, das unter Wölfen aufwuchs und nicht einmal mehr aufrecht zu stehen und zu gehen lernen konnte, geschweige denn Sprache oder sonstige Kommunikation mit Menschen zustande bekommt. So ein Kind (das hat es wirklich gegeben) kann nicht mehr auf Menschsein umschwenken, es hat bereits eine feste Wolfswelt im Kopf, da gibt es keinen Ansatzpunkt mehr, um menschliche Sicht- und Verhaltensweisen zu lernen.
Emrymer schrieb am 10.04.2021 14:04:
Das faszinierende an der menschlichen Gesellschaft ist, daß sie damit zurechtkommt, einerseits in der Tat diese beschriebenen subjektiven Aspekte alle zu haben, aber andererseits darüber hinaus zu intersubjektiven Aspekten fähig zu sein. Und für die gilt das Gesagte dann nur mehr eingeschränkt bis fast gar nicht mehr.
Sie tun hier im Grunde so, als gäbe es keine gesellschaftlichen Probleme. Aus Ihrer Sicht scheint es sich heute um die besten aller Gesellschaften zu handeln, und das vermutlich nur, weil Sie im Gegensatz zum größten Teil der auf der Erde existierenden Menschen in einem auffallenden Wohlstand leben.
Irgendwie kommt die Gesellschaft natürlich immer zurecht, sogar in Diktaturen und sonstigen schlimmen Verhältnissen. Doch eigentlich gibt es die Gesellschaft als zusammenhängendes Gebilde gar nicht; sie ist ein gedankliches Konstrukt, eine menschliche Kategorie, die zu Vorstellungen führt wie die Allgemeinheit oder die Öffentlichkeit und dergleichen Begriffe, die eigentlich, wenn man genauer hinschaut, kein Gegenstück in der Außenwelt haben. Die meisten in dieser Gesellschaft sind eben nicht zusammen gesellig, kennen sich nicht einmal, sind im Grunde von außen ab Geburt dazu bestimmt worden, zu dieser Gesellschaft, zu diesem Nationalstaat zu gehören, ihm unterworfen zu sein.
Was ich in dieser Gesellschaft erkennen kann, ist zunehmende Spaltung und Vereinzelung, sind zunehmende individuelle psychische Defizite und Erkrankungen und damit auch eine zunehmende Erkrankung der Gesellschaften. Wer bin ich in einer traumatisierten Gesellschaft? lautet ein neues Buch von Franz Ruppert. Und auch der aus der DDR stammende Psychologe Hans-Joachim Maaz spricht von einer narzißtischen und normopathischen Gesellschaft. Was meinen diese Wissenschaftler damit? Sie sprechen davon, daß in den heutigen Gesellschaften fast nur noch emotional stark reduzierte Menschen leben – nicht, weil sie so auf die Welt kommen, sondern weil man sie im Laufe ihrer Sozialisation daran hindert, ihre angelegten Fähigkeiten zu entwickeln und zu entfalten. Was glauben Sie, woher die weitverbreitete Gehorsamsbereitschaft kommt, die alle brav ihre Masken tragen läßt, auch wenn sie wissen, daß sie sich damit selbst schädigen?
https://www.youtube.com/results?search_query=Wer+bin+ich+in+einer+traumatisierten+Gesellschaft
https://www.youtube.com/results?search_query=Hans-Joachim+Maaz
Emrymer schrieb am 10.04.2021 14:04:
Und auf dieser Basis war - für kurze Zeit - ein intersubjektives Wissen um die Wirklichkeit möglich, das eine erstaunliche wissenschaftliche und technologische Blütezeit ermöglicht hat. Es war in der Tat mit einer Unterordnung des Subjekts unter eine Gemeinschaft verbunden, in der das Subjekt akzeptierte, das das Gemeinschaftswissen das eigene Wissen überstieg und korrigieren durfte - und es gab wiederum die Möglichkeit, daß neue Erkenntnisse (von Einzelnen oder Gruppen) das Gemeinschaftswissen erweitern und verändern konnten. Der behauptete Tyrann hatte immer auch Ohren, um zu hören...
Technologische Blütezeiten hat es auch schon im Pharaonenreich vor etlichen tausend Jahren gegeben. Solche Begriffe sind doch relativ und sagen eigentlich nur aus, daß es einen technischen Fortschritt gegeben hat. Wußten die ersten Menschen, die mit dem Feuer umgingen, was wir heute über das Feuer wissen? Nein, sie wußten etwas anderes, das wir heute als falsch und überholt betrachten, als veraltet und unzutreffend. Und wußten die Menschen vor 2000 Jahren, wie das Feuer funktionierte? Natürlich wußten sie das, aber sie wußten es auf eine andere Art als wir das heute wissen, nämlich im Rahmen ihrer Welt- und Wertvorstellungen. Wie damals und heute funktioniert das Feuer und das Feuermachen und -verwenden noch immer, egal was wir darüber denken oder wie wir uns das Feuer erklären. Wieso um alles in der Welt sollte ich daher annehmen, gerade in meiner Zeit, zu meinen Lebzeiten hätten wir etwas Endgültiges entdeckt, hätten wir die ultimativen Erklärungen für alles gefunden? Die Erkenntnisse von heute sind die Irrtümer von morgen. Auch das war schon immer so. Ein Flugzeug wird niemals fliegen können, glaubte damals die Wissenschaft, und als es dann doch einer zum Fliegen brachte, wurde er erst einmal geächtet, seine Leistung gar als Teufelswerk deklariert. Strom durch eine Leitung fließen lassen? Niemals! Die Tatsache, daß wir technologische Entwicklungen durchmachen, wurde gestern und wird auch heute als Zeichen für Weisheit und Erkenntnis gesetzt. Die neuesten Erkenntnisse der Kernphysiker, daß jede angebliche Materie sich in Energiefelder auflöst, sobald man näher hinschaut, wird bis heute vom Großteil der Wissenschaftler nicht wahrgenommen oder ignoriert. Alte Weisheiten z.B. aus dem Indien vor einigen tausend Jahren werden als Aberglaube diffamiert, nur weil sie nicht in der wissenschaftlichen Sprache von heute verfaßt wurden. Die meisten, die sich heute als Wissenschaftler bezeichnen – praktisch jeder Mediziner tut das, auch wenn er kein Wissen schafft – sind in Wirklichkeit bloße Techniker, die bereits vorhandene Erkenntnisse anwenden, um oft unnötige und langweilige Tabellen mit irgendwelchen Inhalten zu füllen, die kein Mensch braucht.
Emrymer schrieb am 10.04.2021 14:04:
Aber die Basis erodiert erfahrungsgemäß von Zeit zu Zeit, und dann greifen andere Mechanismen. Weltreiche zerfallen von innen her, die "siegreichen Barbaren" triumphieren nur, weil ihnen eine leere Hülle keinen Widerstand mehr leistet. Wenn es jemanden gibt, der der wissenschaftlichen und technologischen Blütezeit ein Ende setzen will, wird er feststellen: die Volte ist denkbar geworden, ein "zutreffendes" Verständnis von Watzlawick, Baggott, Mausfeld und der eigenen Großhirnrinde für möglich zu halten und daraus eine grundsätzliche Infragestellung allen intersubjektiven Wissen abzuleiten. Voilà! Mission accomplished.
Ja was glauben Sie, warum Gesellschaften, Nationen, Reiche, Imperien auf- und absteigen? Etwa weil die jeweiligen Gesellschaften so stabil und ausgewogen, ausbalanciert im Gleichgewicht sind? Sind sie eben nicht. Die gesellschaftliche Entwicklung auf der ganzen Welt ist der technologischen schon immer weit weit hinterher. Im Grunde haben wir Menschen grundsätzliche Probleme nicht nur nie überwunden, sondern überhaupt erst gar nicht erkannt (von ein paar Einzelnen, denen keiner zuhört, abgesehen). Niemand will wissen, daß er sich und andere in Gedanken, Worten und Taten täglich bis zu 200 Mal belügt. Keiner will wahrhaben, daß er traumatisiert wurde, niemand ist bereit dazu, in die dunklen Ecken seiner Seele hineinzuhorchen und zu -schauen. Kaum jemand weiß, wie sein eigener Verstand arbeitet, wie sein Gehirn funktioniert, wie er täglich durch Propaganda und Reklame getriggert wird. Alle ständig oder regelmäßig vor dem Fernseher sitzenden Menschen glauben sich nach Konsum von Tagesschau oder Heute Journal gut informiert, wissen aber am nächsten Tag nicht mehr, was dort thematisiert wurde.