Exkurs
Ein Bericht ist nie – in keinem möglichen Fall – das wirkliche Geschehen. Daß eine große Zahl zeitgenössischer Medienkonsumenten dennoch eine starke Neigung zeigen, einen Bericht – eine verbal formulierte oder filmisch bzw. fotografisch dargestellte Beschreibung eines Geschehens – für bare Münze zu nehmen, ist jedoch nicht verwunderlich, stellt das menschliche Gehirn seinem jeweiligen Träger doch eine Vorstellungsfunktion zur Verfügung, die in selbigem visuelle und emotionale Phänomene auslöst. So bereichert man beim Lesen eines Romans das darin geschilderte Geschehen mehr oder weniger automatisch durch Imagination (Image = Bild). Doch anders als im Kino oder beim Anschauen eines Videos vor dem heimischen Bildschirm, wo die einzelnen Bilder sozusagen festgelegt sind, erzeugen verbale Berichte im Leser ganz subjektive Vorstellungen, die sich von Leser zu Leser mehr oder weniger stark unterscheiden. (Daß auch Filme unterschiedlich wahrgenommen werden können, zeige ich weiter unten.) Ein guter Romanschriftsteller weiß einiges über Imagination und gestaltet seine Romanfiguren, die Landschaften und die Situationen, die er beschreibt, entsprechend markant oder lebensecht aus, damit er möglichst genau den Eindruck hervorruft, den er beim Leser anstrebt.
Im Vorwort seines Buches Black Mamba schreibt der Wahrnehmungspsychologe Fred Mast darüber, wie er zu seinem Beruf kam:
... Ich war mir sicher, in der Ferne auf der Straße Wasserpfützen zu sehen. Als wir die Stelle erreichten, war die Pfütze nicht mehr da. Wie konnte das sein? Alles nur ein Schein? Ich war mir doch so sicher, dass ich die Wasserpfützen gesehen hatte. Diese Luftspiegelung hat mich beschäftigt. Ich wurde Wahrnehmungspsychologe. Mit der Zeit wurde mir klar, dass wir unsere Wahrnehmung nicht als Ergebnis der auf uns einwirkenden Sinnesreize verstehen können. Das ist die falsche Perspektive. Innere Prozesse, die sich durch Erwartungen und Vorwissen manifestieren, sind entscheidend, und sie erst machen unsere Wahrnehmung zu dem, wie wir sie erleben. Eng an unsere Wahrnehmung ist auch die Fähigkeit zu Imagination und Fantasie gekoppelt. Mithilfe der Imagination planen wir unsere Zukunft und können in mentalen Simulationen mögliche Wirklichkeiten erproben oder von entrückten Welten träumen. Die Macht der Imagination ist ein evolutionärer Jackpot, und unsere Wahrnehmung ist der Schlüssel zu ihrem Verständnis. Imagination interagiert einerseits mit den Sinnesreizen, denn diese liefern unvollständige Daten. Andererseits setzen wir die Imagination davon ganz unabhängig als Simulator ein. (Black Mamba, Seite 9; Hervorhebung von mir)
Da es keine zwei Menschen mit genau denselben Erwartungen und mit demselben Vorwissen gibt, gibt es auch keine zwei genau gleichen Wahrnehmungen desselben Geschehens. Allein schon die Tatsache, daß zwei Menschen, die ein Geschehen direkt beobachten, dabei niemals gleichzeitig an derselben Stelle sein können, läßt den Schluß zu, daß beide dieses Geschehen niemals exakt auf dieselbe Weise wahrnehmen können, weil sich von anderen Stellen aus andere Blickwinkel ergeben. Das mag bei einer Theatorvorstellung nicht groß ins Gewicht fallen, doch bei komplexen Alltagsvorgängen wie z.B. einem gewalttätigen Tumult auf der Straße hört z.B. ein Ermittlungsbeamter, der die Zeugen darüber befragt, was sie gesehen haben, oft sehr unterschiedliche Schilderungen.
Vor vielen Jahrzehnten, als ich gerade damit begann, mich für Psychologie zu interesseren, las ich in der Zeitschrift Psychologie heute von einem Experiment. Einem schwarz-weiß gemischten Publikum wurde ein Film vorgeführt, in dessen Verlauf ein Weißer einen Schwarzen umbrachte. Anschließende Befragungen führten zu einem erschütternden Ergebnis: Die Mehrheit der weißhäutigen Zuschauer wollte gesehen haben, wie ein Schwarzer einen Weißen tötete, während ausnahmslos alle schwarzhäutigen Zuschauer den Ablauf des Geschehens wahrheitsgemäß schilderten. Damals konnte ich das nicht wirklich verstehen, doch langsam wurde mir klar, daß bestehende Vorurteile den Blick stark verzerren können. Auch bestehende Interessen sorgen oft dafür, daß wir in der Hauptsache jene Aspekte einer Sache, eines Geschehens, ja sogar eines Menschen wahrnehmen, die unseren Interessen entsprechen. Wer z.B. in der Hauptsache an einem sexuellen Abenteuer interessiert ist, achtet beim Kennenlernen des Sexualpartners weniger auf Anzeichen neurotischer Störungen, vielleicht aber auch deshalb nicht, weil er seine eigenen Neurosen noch nicht realisiert hat und solche Anzeichen nicht kennt. In der Regel sind dann sexuelle Attraktivität wichtiger als der Charakter – Merkmale wie Brustgröße (der Frau), Muskeln (des Mannes), Schlankheit, Schönheit des Gesichts und einladendes Verhalten dominieren dann die Wahrnehmung. Dagegen wird ein reifer und erfahrener Beziehungsmensch schnell erkennen, ob er es etwa mit einem Narzißten oder einem überängstlichem Menschen zu tun hat und sich entsprechend vorsehen.
Zur thematisierten Umfrage
Zuerst habe ich mir die 11-seitige PDF-Datei zur Umfrage vollständig durchgelesen. Schon im ersten Absatz wird eine weitverbreitete Voreingenommenheit deutlich, die Zweifel an der behaupteten wissenschaftlichen Unabhängigkeit aufkommen läßt:
... waren es in den Folgemonaten die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Corona-Maßnahmen und die Angemessenheit von Lockerungen, über die ein gesellschaftlicher und medialer Diskurs geführt wurde. Dabei spielten auch sogenannte Corona-Leugner und ihre auf Demonstrationen vertretenen Positionen eine Rolle. (Hervorhebung von mir)
Mit dem Begriff Corona-Leugner machen die Autoren unmißverständlich ihren Standpunkt deutlich hinsichtlich der Frage, ob die Maßnahmen angemessen sind oder nicht. Die meisten der Maßnahmengegner leugnen nämlich keineswegs die Existenz eines Corona-Virus, sondern kritisieren die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahmen. Der Begriff Corona-Leugner wird in der 11-seitigen Studie fünf Mal dazu verwendet, Maßnahmen-Kritiker zu diskriminieren!
Die davor angeführte Darstellung, es würde ein gesellschaftlicher und medialer Diskurs über die Verhältnismäßigkeit der Corona-Maßnahmen und die Angemessenheit von Lockerungen geführt werden, ruft den Eindruck einer zensur- und barrierefreien Diskussion hervor, der nachweislich nicht zutrifft. Zahlreiche Kritiker wurden bereits medial verurteilt und durch Entlassungen, Drohungen, Ausgrenzungen etc. mundtot gemacht. Allein schon diese offensichtlich unwahre Darstellung läßt Rückschlüsse auf das Zielpublikum dieser »Studie« zu: Weitgehend kritiklose Zeitgenossen, die schon beim Lesen des Begriffs wissenschaftlich alle Zweifel fahren lassen und glauben, was ihnen vorgesetzt wird.
Ab Herbst kam dann die Sorge vor einer zweiten Corona-Welle auf, und es wurden erneut Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie diskutiert.
Diese Formulierung erweckt den falschen Eindruck, die von der Bundesregierung getroffenen Maßnahmen seien ein Resultat von Bürgerdiskussionen. Tatsächlich wurden die Maßnahmen autoritär von den Beteiligten in Bund und Ländern beschlossen, wobei sich die Bundesländer für teilweise recht unterschiedliche Maßnahmen entschieden haben. Wo in Bayern totales Ausgehverbot herrschte, konnte man in anderen Ländern ohne Angst vor Strafe auf die Straße gehen.
Die Autoren der Studie schreiben im weiteren Verlauf darüber, daß sich die Bürger an seriösen Quellen orientieren würden. Was genau sie mit seriös meinen, wird auch bei fortgesetzter Lektüre nicht so recht deutlich. Meinen sie damit etwa den Spiegel, der die erfundenen Geschichten eines Relotius jahrelang als wahr verkaufte und der von einem Bill Gates im Jahr 2018 satte 2,3 Millionen Euro geschenkt bekam und daraufhin beteuerte, daß diese riesige Summe einzig für die Förderung der Rubrik Globale Gesellschaft verwendet werde, die von Bill Gates überhaupt erst ins Leben gerufen wurde? (1) Oder meinen sie die anderen großen Tages- und Wochenzeitungen, die in den letzten Jahren massive Zuwendung durch Steuermittel erfahren hatten, hauptsächlich in Form von teuren Werbeanzeigen, die politische Propaganda transportieren?
Die in der Studie angeführte Finanzierung selbiger aus Forschungsmitteln der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler läßt keinen Rückschluß darauf zu, woher diese Mittel stammen. Wie man jedoch längst weiß, sind Wissenschaftler an vielen Universitäten heute zwingend darauf angewiesen, sogenannte Drittmittel einzuwerben. Das bedeutet, sie müssen, um ihre Forschungen finanzieren zu können, Geld von privaten Spendern eintreiben, um nicht zu sagen erbetteln. Meistens sind damit gewisse Bedingungen verbunden, z.B. daß Forschungsergebnisse dem Spender, den man durchaus auch als Auftraggeber bezeichnen kann, zugute kommen.
Wenn Sie in einer telefonisch geführten Umfrage das Thema Verschwörungstheorie erwähnen, müssen Sie damit rechnen, daß die Befragten jegliche Verbindung mit diesem – durch die Massenmedien inzwischen völlig negativ konnotierten – Begriff weit von sich weisen werden. Genau so gut könnten Sie die Leute am Telefon danach fragen, ob sie Kinderschänder seien oder Mörder oder Betrüger oder Narzißten oder autoritäre Charaktere oder BILD-Leser oder MacDonalds-Futterer usw. In den meisten Fällen würden Sie hier durch eine direkte Fragestellung niemals die Wahrheit erfahren, im Gegenteil, man würde Sie belügen, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, sozial ausgegrenzt oder gar als verrückt oder kriminell beurteilt zu werden. Gerade bei Telefonumfragen droht dem Befragten durch die zunehmende Aufweichung des Datenschutzes zudem eine unerwünschte Kontrolle oder zuminderst eine Erfassung in einer unschönen Kategorie ...
Die durch das Internet hervorgegangene Konkurrenz für die Mainstream-Medien hat diese in arge finanzielle Nöte gebracht. Der Absatz vor allem der Print-Medien ging seitdem von Jahr zu Jahr zurück. Spätestens seit dem Jahre 2014, als deutlich wurde, wie tendenziell gleichgeschaltet und nachweislich unwahr die Presse und das Fernsehen über die Geschehnisse in der Ukraine berichteten, hat das Interesse an den etablierten Medien mehr als deutlich nachgelassen. Ein Verdi-Bericht vom April 2017:
Die Medienbranche zeichnete sich im vergangenen Jahr durch sehr unterschiedliche Entwicklungen aus, konstatiert Gert Hautsch in seinen aktuellen Branchenberichten. Der Buchhandelsumsatz ist im ersten Quartal 2017 um 4,5 Prozent geschrumpft, nachdem er 2016 leicht zugenommen hatte. Zeitungen und Zeitschriften haben 2016 erwartungsgemäß Umsatz verloren, deutlich stärker ist das Geschäft mit Film und Video eingebrochen, die Musikindustrie ist hingegen zum dritten Mal in Folge gewachsen. (2)
Eigentlich habe ich keine große Lust dazu, den ganzen Text der Studie auf offensichtliche Fehler, Voreingenommenheiten und unwissenschaftliches Vorgehen zu durchleuchten; ein solches Unterfangen würde wohl auch einen allzu langen Text bedingen, was sich für die meisten Leser als unzumutbar erweisen würde.
Mir ist schon beim Lesen des Telepolis-Artikels einiges aufgestoßen, was viel zu vieler richtigstellender Erläuterungen bedürfte, als ich sie hier leisten könnte und wollte (noch dazu unbezahlt und in Hartz-Armut lebend). Vieles davon, was in der Studie behauptet wurde, halte ich für äußerst fragwürdig, so z.B. die Repräsentation von allen Bundesbürgern über 18 Jahren (das sind Zig-Millionen) durch eine kleine Minderheit von 1207 Befragten. Ich störe mich auch z.B. an dem Begriff Medienzynismus – ein diskriminierendes Etikett, das den sogenannten harten Kritikern angeheftet wird, die den Medien gegenüber angeblich feindselig und ablehnend gegenüberstehen. Würde man mich fragen, ich würde ablehnend bei nahezu allen Mainstream-Printmedien bejahen, Feindseligkeit dagegen nicht. Über Rundfunk möchte ich erst gar nicht zu schreiben beginnen; nicht ohne Grund besitze ich seit nun gut 36 Jahren weder Fernseher noch Radio ...
Betrachte ich mein direktes Umfeld, rede ich mit den Menschen, die mir tagtäglich begegnen (im Mietshaus, beim Einkaufen, auf der Straße, im Bekannten- und Freundeskreis), so kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß die angeblichen 11 Prozent, die glauben, von den Medien systematisch belogen zu werden, zu niedrig angesetzt sind. Meines Eindrucks nach sind es viel viel mehr, nur geben es eben nicht alle zu, weil sie Angst davor haben, z.B. als Verschwörungstheoretiker beschimpft zu werden und deshalb als verrückt zu gelten.
(1) Linke Zeitung vom 03.05.2020
https://linkezeitung.de/2020/05/03/bill-gates-spendet-dem-spiegel-23-mio-euro-wie-unabhaengig-kann-der-spiegel-sein/
Die freie Welt vom 07.05.2020
https://www.freiewelt.net/nachricht/bill-gates-spendet-dem-spiegel-23-millionen-euro-10081172/
Der Spiegel vom 14.05.2020
https://www.spiegel.de/backstage/fragen-und-antworten-zur-foerderung-durch-die-bill-and-melinda-gates-stiftung-a-dac661f6-210a-4616-b2d2-88917210fed4
weitere Suchergebnisse bei DuckDuckGo:
https://next.duckduckgo.com/?q=Spiegel+Gates+spende&t=h_&ia=web
(2) Printmedien weiter Umsatz verloren
https://mmm.verdi.de/medienwirtschaft/printmedien-weiter-umsatz-verloren-40931