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  • Rkahr

mehr als 1000 Beiträge seit 25.04.2023

Re: Stay at home - Schütze deine Großeltern

Ein kleines Experiment:

Stellen wir uns vor, dass Sie, verehrte Eltern eines Kindes, sich nicht unbedingt als preisgekrönte Turboeltern betrachten, dennoch bemüht sind, Ihrem Nachwuchs Freiheit zu gewähren und die Herausforderungen der Corona-Zeit gemeinsam zu meistern. Nehmen wir an, auf der Elternskala befinden Sie sich über dem Durchschnitt, besser als 50% der Eltern. Es ist ein Beispiel, da kann man ruhig großzügig sein.

Diese Annahme möge vorerst genügen, denn wer spricht schon gerne darüber, wenn es dem eigenen Kind nicht gut geht?

Nun stellen Sie sich vor, Ihr Kind tritt an Sie heran und gesteht: "Liebe Eltern, es geht mir nicht gut. Ich denke, ich kann es nicht mit euch besprechen. Könnt ihr mir einen Termin beim Psychiater organisieren? Ich möchte mit jemand anderem als euch darüber sprechen. Es ist nichts Schwerwiegendes, aber es fällt mir schwer, überhaupt danach fragen zu müssen."

Nun, halten Sie inne.

Notieren Sie zunächst, wie sehr Sie glauben, dass Ihre Wahrnehmung der Situation korrekt ist, auf einer Skala von -10 (Ihnen fehlt jegliches Verständnis, den Kindern geht es prächtig) bis +10 (Sie haben vollkommen recht, die Kinder stehen kurz vor dem Zusammenbruch). Seien Sie ruhig ehrlich, bedenken Sie, dass meine Kenntnisse begrenzt sind.

Befassen Sie sich mit dem Gedanken, einen Psychologentermin für Ihr imaginäres Kind zu arrangieren. Bei jeder Absage mit der Begründung, die Kapazitäten seien erschöpft und es gebe Wartelisten, verschieben Sie Ihren Marker in positive Richtung. Bei einer Zusage und Verfügbarkeit von Kapazitäten verschieben Sie ihn in die entgegengesetzte Richtung.

Ich wage die Behauptung, dass Ihr Marker nach diesem Experiment nicht mehr genau an derselben Stelle verweilen wird, und wir wissen beide, ob das ergebnis positiv oder negativ wird.

Als erfahrener Alter Sack hatte auch ich meine Herausforderungen mit der Corona-Pandemie. Meine Bedürfnisse sind bescheiden, solange ich mein Butterbrot und gelegentlich ein Bier habe, lässt es sich aushalten. Zur Not kann ich auch still auf dem Balkon sitzen und Däumchen drehen.

Doch betrachten wir die Sache einmal aus einer anderen Perspektive. Stellen Sie sich vor, ich veröffentliche einen Artikel, der besagt: "Statistisch gesehen, wird Ihr Ehepartner Sie betrügen." Oder stellen Sie sich vor, Sie sind gezwungen, einen Vortrag mit dem Titel "Jeder Wissenschaftler ist ein Idiot" zu besuchen.

Lassen Sie uns noch einen Schritt weiter gehen. Stellen Sie sich vor, Sie müssen sich den Vortrag anhören: "Flüchtlinge sind voll kriminell und abartig." Oder der Klassiker: "Denken Sie an vier Männer, einer von ihnen ist ein Vergewaltiger, der es auf Sie abgesehen hat." Macht Sie das nicht wütend? Selbst wenn es nur hypothetisch ist, regt sich da nicht der Zorn in Ihnen?

Nun, stellen Sie sich vor, Sie sind Ihr jüngeres Selbst, und tagtäglich wird Ihnen eingetrichtert: "Wir bleiben jetzt alle schön drinnen, sonst bringen wir Oma und Opa um." Es läuft im Radio, es läuft auf TikTok, es läuft auf YouTube - Sie kommen nicht davon los. SIE sind fürs überleben von Oma und Opa verantwortlich.

Dann kommt der Tag X, an dem plötzlich gesagt wird: Jetzt dürfen wir wieder raus, alles ist wie zuvor, komm, lass uns Urlaub machen. Und auf einmal wird von Ihnen erwartet, dass Sie sofort wieder funktionieren. Können Sie das so schnell? Oder benötigen Sie vielleicht einen Moment?

Erinnern Sie sich an die Zeit nach dem Abitur. Es gab einen Freund oder eine Freundin, mit der Sie sich das erste Mal richtig betrunken haben, vielleicht haben Sie Drogen ausprobiert oder sich ordentlich gestritten, Dummheiten angestellt...

Diese Zeit erinnert man sich gerne, sie gibt Kraft. Auch wenn es mal nicht so läuft, kann man sich hinsetzen, die Augen schließen und denken: "Nein, wie geil war das damals, ich war jung, und die Welt war offen... Du, ich krieg das hin."

Aber die Kinder in der Corona-Zeit haben das nicht.

Als ich klein war, gab es auch eine Zeit, in der es unserer Familie nicht so gut ging. Mein Vater aß im Büro und erzählte mir, dass er so satt war, dass er nichts mehr essen könne. Er setzte sich aber gerne hin und trank ein Glas Wasser. Oder die Zeit, als meine Mutter oft Magenprobleme hatte und ab und zu nichts essen mochte. Aber für meine kleine Schwester und mich war immer genug da. Wir sind nie hungrig ins Bett gegangen, und es gab immer Nachschlag.

Mir wurde erst später klar, was wirklich vor sich ging. Deshalb weiß ich ganz genau: Wenn meine Mutter mich heute anruft und es nicht so gut läuft, dann stehe ich ihr bei. Ich frage sie einfach, wie sie damals die Kekse gemacht hat. Natürlich sind meine Kekse nicht gelungen, und sie sind zu schade zum Wegwerfen. Ich komme einfach nicht darauf, was ich falsch gemacht habe. Und übrigens, ich habe die falschen Äpfel, die sind irgendwie alle runzelig. Kann ich dir eine Kiste vorbeibringen? Ich kriege sie nicht runter. Und dieser Bäcker hat das Brot neu gemacht. Glutenfrei ist für die Katz. Die Leute sollten dafür verhaftet werden...

Ich weiß genau, dass sie sich sträuben würde, wenn sie wüsste, dass ich eine Ahnung habe, dass es mit der Rente knapp wird. Aber ich weiß auch, wenn sie sich über meine Backkünste aufregen darf und behaupten, ich sei ein hoffnungsloser Fall, zu sehr an Döner gewöhnt, um einen normalen Apfel essen zu können....

Wenn sie auflegt, hat sie etwas, woran sie sich festhalten kann. Sie würde lieber hungrig vor dem Telefon sitzen, als mir zu sagen, dass es nicht reicht. Mein Vater ist genau dasselbe Kaliber.

Ich tue das, weil mir klar wurde, wie viel meine Eltern damals für mich geopfert haben. Nur damit meine kleine Schwester und ich eine schöne Kindheit hatten.

Und nun gehen wir einen Schritt weiter und stellen uns vor, wie es sein wird, wenn wir einmal im Altersheim sitzen. Werden uns dann die Kinder aus der Corona-Zeit besuchen und uns sagen, dass sie mitbekommen haben, wie sehr wir uns aufgeopfert haben, damit sie eine großartige Kindheit hatten? Werden sie das genauso sehen? Haben wir es verdient, dass sie es so sehen?

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