Den Gedankengang dieses Artikels kann ich spätestens ab dem Punkt, an dem gefragt, wird, ob das "alte Normal" denn wirklich so gut war, nicht einmal ansatzweise nachvollziehen.
Natürlich ist es weiß Gott kein schönes Leben, wenn man in einem prekären Job Vollzeit schuften muss und am Ende doch nicht mit seinem Geld über die Runden kommt. Das hat aber nichts, absolut gar nichts mit dem Verlust der bürgerlichen Freiheiten durch "Maßnahmen" zu tun. Im Gegenteil: Gerade Menschen am unteren Ende der Nahrungskette sind besonders hart von den "Maßnahmen" betroffen. Gerade Menschen, die in kleinen Wohnungen mit wenig Platz leben müssen, sind von Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren viel härter betroffen als Reiche mit großem Haus mit großem Garten. Letztere können es sich auch viel eher leisten, die "Maßnahmen" zu ignorieren und "illegale Treffen" zu veranstalten als Menschen, die in Blocks mit vielen Wohneinheiten wohnen, wo die Wahrscheinlichkeit, von selbsternannten Blockwarten bei der Polizei verpfiffen zu werden, viel höher ist als in einem durch Hecken und anderes Grünzeug optisch und akustisch abgeschirmten Einfamilienhaus.
Man darf auch nicht vergessen, dass die "Kontaktbeschränkungen" während der Pandemie von einzelnen Arbeitgebern zu Versuchen, Betriebsratswahlen mit Hinweis auf Corona-Versammlungsverbote zu verhindern, missbraucht wurden. Das Koalitionsrecht, also das Recht zur Bildung von Gewerkschaften und zur Organisation von Streiks zur Verbesserung von Löhnen und Arbeitsbedingungen gehört nämlich auch zu den bürgerlichen Freiheiten, die durch "Maßnahmen" bedroht sind.
Eine "kapitalismuskritischen Erweiterung" der Kritik an den "Maßnahmen" würde aus meiner Sicht vor allem eins bewirken: Sie lenkt vom Problem, dass unter dem Deckmantel des Gesundheitsschutzes bürgerliche Freiheiten (wozu, wie gesagt, auch das Streikrecht gehört) beseitigt werden, ab. Diese "Erweiterungen" von Systemkritik halte ich für den wesentlichen Grund, warum linke Bewegungen ständig verlieren. Eine primär kapitalismuskritische Bewegung wie Occupy verliert an Verbündeten und damit an Schlagkraft, wenn sie von allen Unterstützern zugleich verlangt, feministische, "antirassistische" und LGBTQwhatever-Forderungen zu unterstützen.