Es ist ja ein alter Hut, dass Kritik am Bestehenden das Bestehende auch bestärkt. Selbstverständlich sind Antithesen fast nie aus der Welt gefallen, sondern reproduzieren sich aus Bestehendem oder Gewesenen.
Seltsam fand ich diesen Satz:
"Das Perfide an der parlamentarischen Demokratie ist, dass sie die Interessen der herrschenden bürgerlichen Klasse, die selbst größtenteils bloße Rationalisierung der zum Zwang gewordenen Kapitalinteressen, also des Zwangs zur Mehrwertabschöpfung und zur Urbarmachung der Körper, Seelen, Gehirnen und Personen der Menschen der riesigen Kapitalreproduktionsmaschinerien (deren äußere Hüllen dann die vielbemühten Großkonzerne, die Industrie oder die Banken abgeben), dass sie also diese Interessen auf offizieller Ebene als genuines Interesse der Bevölkerung selbst ausgibt."
Eine parlamentarische Demokratie ist nicht identisch mit einer herrschenden bürgerlichen Klasse. Im Zweifel setzt sich in Folge einer Revolution oder geschichtlicher Umbrüche die neue herrschende Klasse eh an die Stelle der alten und übernimmt Interessen, Traditionen, Strategien, Dispositive etc. So geschehen nach der französischen Revolution, so geschehen im real existierenden Sozialismus. Insofern wirft der Autor hier eine Nebelkerze, wenn er entweder suggeriert, es könnte theoretisch eine völlig andere herrschende Klasse mit völlig anderen Interessen, Traditionen, Strategien und Dispositiven geben, oder wenn er suggeriert eine utopische klassenlose Gesellschaft wäre möglich. Nö, die ist überhaupt nicht in Sicht, kaum jemand hat Interesse an ihr. So Herr-Knecht-Verhältnisse haben eben auch Vorteile, bringen weniger Verantwortung, die die Leute meist nicht zu tragen bereit sind.
Selbstverständlich gibt jeder Staat mit einem repräsentativen Parlamentarismus aus, dass er die Interessen der Bevölkerung bedient oder berücksichtigt. Entgegen dessen, was der Autor suggeriert, ist das grundlegende Funktionieren eines Staates im Interesse der Bevölkerung, egal ob Arm oder Reich. Auch die angeblich bösen Großkonzerne - normal die Lieblinge der Sozialdemokraten und Linken, die lieber auf Zentralisierung statt Dezentralisierung setzen - haben Interessen, die sich meist mit denen der Beschäftigten decken: Sicherheit des Arbeitsplatzes, Aufstiegschancen, in der Chemieindustrie sogar halbwegs gute Bezahlung und Arbeitsbedingungen (weswegen es keine Streiks in dieser Branche gibt). Leute, die zufrieden mit ihrem Job sind, identifizieren sich mit ihrem Arbeitgeber. Leute, denen bewusst ist, wie wichtig es ist, dass es ein Gesundheitssystem, Bildung, stets verfügbare Nahrung und Grundbedarfartikel, sowie Infrastruktur, Kultur etc. gibt, identifizieren sich mit den Kapitalinteressen. So wie sich lange Zeit viele Leute in der DDR auch mit dem sozialistischen Staat identifiziert hatten, solange er ihnen die Befriedigung der Grundbedürfnisse garantierte. Insofern sehe ich auch hier eine Nebelkerze, indem suggeriert wird, die Bevölkerung allgemein hätte immer und grundsätzlich ein anderes Interesse als der Staat oder das Kapital, selbst die Interessen von Staat und Kapital unterscheiden sich, auch wenn der Staat vom Kapital lebt, sich finanziert. Es gibt einige Punkte, wo die Interessen (z.B. dass die Reichen immer reicher werden - dass man nicht frei reisen durfte) nicht deckungsgleich sind, grundsätzlich sind sie es aber, sowohl im Staatskapitalismus, als auch im Marktkapitalismus.
Dem Marktkapitalismus wurde vorgeworfen, eine 2/3 - 1/3-Gesellschaft anzustreben (Postfordismustheorie). Auch ist kritisch zu sehen, dass die soziale Mobilität schwach ist. Ich halte aber nichts von der Verschwörungsthese, die Politikmarionetten würden da bloß an den Fäden der Wirtschaftselite hängen. Diese sogenannte Elite ist kein gleichgeschalteter Block, sondern pluralistisch, auch in ihren Interessen. Wenn dann hängen gewisse Politiker:innen mit gewissen Wirtschaftskreisen zusammen. In Zukunft wird sich aber deshalb einiges ändern, weil sich die Arbeitslosigkeitsproblematik verschiebt zu einem Mangel an Arbeitskräften. Da wird sich noch manches ändern können. Der Mehrheit der Bevölkerung ist offensichtlich eher egal, dass die soziale Schere auseinandergeht, auch wenn das dem Marktkapitalismus genauso schadet wie den Leuten und dem Staat selbst (und sogar manchen Unternehmer:innen).
Auf jeden Fall ist alles viel komplexer als es hier dargestellt wird.