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  • Bernd Paysan

mehr als 1000 Beiträge seit 11.01.2000

Eskapismus als Massenerscheinung

Bei den ganzen Krisen und ihrer Nicht-Bewältigung und Leugnung durch die gleichen gesellschaftlichen Gruppierungen, finde ich langsam ein gemeinsames Pattern: Der Eskapismus. Wobei normalerweise der Eskapist weiß, dass er sich in eine Scheinwelt verkriecht, der hier gemeinte aber glaubt, das sei die Realität.

Fangen wir mit der Flüchtlingskrise an. Hier waren die Ursachen eigentlich klar: Der Westen hat die Herkunftsländer in Schutt und Asche gebombt, und als verbliebene Machtstruktur herrschte der islamische Staat. Wer nicht ganz empathiebefreit ist, versteht, warum die Leute fliehen mussten, und natürlich auch, warum sie hierher fliehen, und nicht in das angrenzende Nachbarland, das ebenfalls auf dem Weg in die islamistische Krise ist.

Nun: Man kann diese Fluchtursachen natürlich einfach wegignorieren, dann werden aus den ganzen Flüchtlingen sofort „Scheinasylanten“, und denen kann man den Unterschlupf ja wohl verwehren. Problem „gelöst“. Seit Jahrzehnten geht das so, das mit den Konservativen und anderen rechtsgerichteten Kräften, die alle Flüchtlinge als „Scheinasylanten“ bezeichnen. Daran sind wir längst gewohnt.

Dann ist das die Klimakrise. Auch hier bieten die konservativ/reaktionären Parteien einen Eskapismus des Wegignorierens an, ebenfalls seit Jahrzehnten (und da schließt der Kreis der Ignorierer auch die SPD mit ein). Laschet mit seinem „Weil jetzt so ein Tag ist, ändert man nicht die Politik“ zeigt das sehr offen auf: Die Realität kann die Politik des Eskapisten natürlich nicht beeinflussen, denn er lebt längst in seiner Scheinwelt.

Auf TP sind die Eskapisten längst in der Mehrheit, und glauben, wenn sie einen Beitrag nur rot genug bewerten, braucht man sich nicht mehr mit den Argumenten darin auseinander setzen.

Die Corona-Krise hat gezeigt, dass die Eskapisten auch aktuelle Ereignisse, bei denen ein langjährig eingeübtes Leugnen gar nicht vorhanden ist, mit ihren Methoden behandeln. Aber dass es ein paar Wochen braucht.

So war zunächst die AfD ganz vorn bei dem Verlangen von Maßnahmen, vor allem natürlich Einreisesperren für Chinesen, aber sie waren eben vorne. Wie üblich kamen damit auch allerlei Verschwörungsmythen daher, denn statt sich der Realität zu stellen, glaubt man lieber, das Virus sei eine aus dem Wuhan-Lab entwischte/bewusst freigesetzte, von Bill Gates in Auftrag gegebene Biowaffe. Wer damals mit Mundschutz unterwegs war, war ein „Coronazi“, ein aus dem AfD-Umfeld stammender besorgter Bürger, der vorsichtshalber aus dem Krankenhaus den OP-Masken-Vorrat gemopst hat, um sich vor ansteckenden Ausländern zu schützen.

Die realen (und in der Regel auch aufgedeckten) Verschwörungen der Parteien, die diesen Eskapismus unterstützen (etwa deren offensichtliche Korruption), werden dagegen gar ungern thematisiert, denn das ist ja die unschöne Realität, aus der man fliehen will.

Kaum war das Virus dann hier, und die üblichen Feindbilder nur noch mühsam („Ansteckung beim Zuckerfest“) zu pflegen, wandelte sich die Situation. Aus der Biowaffe wurde ein „harmloser Schnupfen“, vor dem man nun wirklich keine Angst haben muss. Eine eskapistische Bewältigungsstrategie, die das Problem nicht löst, aber die Angst davor.

Nun hätten wir jetzt mit der Impfung eine Möglichkeit, sich vor der Gefahr weitgehend zu schützen, also die Angst ursächlich zu bekämpfen. Das geht aber für den Eskapisten offensichtlich nicht: Schließlich ist in seiner Scheinwelt jetzt die Impfung die Verschwörung von Bill Gates, und das Virus selbst ja längst „völlig harmlos“. Dass seine Verweigerungshaltung die Maßnahmen, die er so hasst, verlängert, erfasst er nicht, denn dazu müsste er ja irgendwie die Realität akzeptieren.

Zu dem ganzen Phänomen gehört auch der wissenschaftsfeindliche Umgang mit Fakten: Statt eines Reality Checks gelten Meinungen als gleichwertig (besonders die eigene), völlig unabhängig davon, ob sie einer Überprüfung standhalten.

Das ganze ist nicht eine kleine Gruppe Extremisten am Rand, sondern ein weit verbreitetes gesellschaftliches Phänomen, das je nach Grundüberzeugung praktisch überall irgendwie zu finden ist: Grüne gehen schließlich auch zum homöopathischen Arzt, weil ihre Verschwörungsmythen Big Pharma als Feindbild auserkoren haben. Statt einer differenzierten Betrachtung flieht man in eine Scheinwelt, in der man garantiert betrogen wird.

Selbstverständlich wird auch das Recht auf Protest so gesehen: Man demonstriert praktisch gegen die Realität. Dass die Realität sich nicht um Proteste kümmert — kümmert den der Realität entrückten Eskapisten natürlich auch nicht.

Proteste gegen irrationale Politik (etwa in Brasilien) sind eher selten, sind aber Zeichen, dass es auch noch Menschen gibt, deren beide Beine lang genug geworden sind, um auf der Erde zu stehen, und nicht in einer Traumwelt. Aber in Brasilien sind auch die Schwurbler an der Macht, und müssen für ihre Sicht der Dinge nicht demonstrieren.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (29.07.2021 17:42).

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