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  • In der Sache

892 Beiträge seit 24.04.2017

Re: Kann jemand erklären, wie Nuvaxovid als "Impfstoff" funktioniert?

M.O.I Abt. Wiederbeschaffung schrieb am 10.01.2022 17:47:

Das Spike ist derart mutiert, dass Antikörper- und Antigentests auf das S-Protein nicht mehr anschlagen.

Stop, das stimmt in dieser schlichten Bestimmtheit so einfach nicht. In diese ganze teils wilde und wirre Diskussion (sorry, nicht persönlich gemeint) gehört mal ein bisschen quantitatives Verständnis injiziert, um Sie alle aus dem Labyrinth herauszulotsen.

Fangen wir mit einer grundsätzlichen, aber verständlich logischen Annahme an. Spike ist ein großes Protein mit einer großen Oberfläche, an die Antikörper binden und für die Einleitung immunologischer Reaktionen und Effektormechanismen sorgen. Die Behauptung ist jetzt, daß alle Oberflächenbereiche des Spike grundsätzlich ähnlich durch Antikörper erkannt und gebunden werden können und daß es keine Bereiche der Oberfläche gibt, die ganz besonders bevorzugt und priviligiert zur Bildung von dort bindenden Antikörpern führen. Oder anders: kein Teil der Oberfläche ist ein Jackpot für die Antikörperbindung. Das passt soweit zu aller strukturbiologischen Kenntnis. Man könnte pingelig sagen, daß die Glycanmodifikationen des Spike wie ein Vorhang vor einem Teil der Oberfläche hängen und diesen Teil vor Antikörperbindung schützen, aber dann ist die für Antikörperbindung zugängliche Oberfläche halt prozentual kleiner und an den grundsätzlichen Argumenten ändert sich nichts.

Der extrazelluläre Teil einer Spike-Proteinkette enthält 1200 Aminosäuren + 3 Spike-Ketten homotrimerisieten zu einem Trimer mit zusammen 3600 Aminosäuren Umfang. Das ist „a arg langs Fuhrwerk“ oder hochdeutsch ein richtig, richtig großes Protein. Einerseits steigt mit größer werdendem Protein die Zahl der im Proteininneren zu liegen kommenden Aminosäuren mit der 3. Potenz und die Zahl der Aminosäuren auf der Oberfläche nur mit der 2. Potenz, aber andererseits ist das Ding auch recht schmal langgestreckt und keine ideale globuläre Kugel, was die Oberfläche eher wieder größer macht. Die folgenden Zahlen wird man viel genauer nachschlagen oder nachrechnen können, aber ich will bewusst eine Überschlagsrechnung machen: weil ein Oberflächenteil von jeder einzelnen Spike-Kette im Trimer zwischen den Ketten versteckt und verdeckt liegen werden, deshalb nehmen wir mal an, daß ca. 250 Aminosäuren einer Spikekette zugänglich auf der Oberfläche liegen. Die Rezeptor Bindende Domäne RBD, mit deren Bindung an ACE-2 auf der Zielzelle die Infektion startet, macht mit 200 bis 220 Aminosäuren rund ein Sechstel der Spikelänge aus, ist ganz hübsch kugelig globulär gefaltet, ist nicht im Trimer eingebunden, und kann grob mit 50 Aminosäuren von den 250 Aminosäuren der Oberflächen abgeschätzt werden. Jetzt haben wir unser Werkzeug beieinander.

Omikron hat gegenüber Wuhan-Wildtyp paarunddreißig, sagen wir fürs Rechnen 35 Aminosäuren Unterschied, davon 15 in der RBD und 20 im Rest des Spikes (wieder vereinfacht). Nehmen wir auch an, daß alle Sequenzunterschiede auf der Protein-Oberfläche liegen. Dann sind in der RBD 15 von 50 Oberflächen-Positionen = 30 % mutiert, während es im restlichen Spike 20 von 200 Oberflächen-Positionen sind = 10 %. Die Abschätzungen sagen also, daß die Omikron-RBD beim Vergleich mit Wuhan Wildtyp prozentual viel mehr veränderte Protein-Oberfläche trägt als der Rest der Spike Oberfläche (und ich denke ja, daß mit genauen Zahlen dieser Unterschied eher noch etwas verstärkt und die Abschätzung eher konservativ ist).

Wenn man mit Wuhan-Wildtyp Spike impft und alle Oberflächen-Bereiche des Spikes ein Antikörperziel sein können, dann kommt man nicht um die Schlußfolgerung herum, daß es nicht nur Antikörper gegen die RBD geben wird, sondern ebenso auch gegen die sehr viel größere restliche Oberfläche des Spike-Partikels. Hochwichtig ist nun, daß sich diese beiden Antikörper-Gruppen in erster Näherung funktionell unterscheiden werden. Anti-RBD-Antikörper werden die Bindung des Virus an den ACE-2 stören können und damit direkt den Infektionsvorgang neutralisieren. Antikörper gegen den Rest der Spike-Oberflächen werden das nicht können und nicht unmittelbar selber virus-neutralisierend sein. Trotzdem schließt das einen Beitrag zu Virus-Abwehr überhaupt gar nicht aus: wenn eine virusinfizierte Zelle Spike auf ihrer Oberfläche trägt, werden auch die nicht-neutralisierenden Antikörper an dieses Spike binden können und cytotoxische Mechanismen über Complement-Aktivierung oder antikörperabhängige Zytotoxität von Makrophagen oder Natural Killer-Zellen auslösen, gar keine Frage.

Wenn diese geimpfte Person durch Omikron infiziert wird, dann funktioniert die Infektion überhaupt erst, weil die Omikron-RBD prozentual so stark verschieden ist, daß die direkt virus-neutralisierenden Antikörper nicht gut oder garnicht binden können und halt auch nicht neutralisieren können. Der Laie denkt fälschlicherweise, ohhhh die Impfung hat komplett versagt. Dabei wird die andere Antikörpergruppe übersehen, deren Zieloberfläche sich viel weniger verändert hat als die RBD (nach der Abschätzung oben) und wo also ein guter Teil der Antikörper zwar nicht direkt neutralisiert, aber trotzdem an der Omikron-Virus-Abwehr beteiligt sein kann und sein wird! Oder anders ausgedrückt: obwohl nicht simpel offensichtlich, wird eine Wuhan Spike-basierte Impfung auch eine hilfreiche Antikörperantwort gegen Omikron-Infektion liefern, und dabei haben wir noch nicht einmal angefangen, über T-Zell-Reaktivitäten und Immunantworten zu reden.

Unbequemerweise muß ich auch sagen (und würde Wetten anbieten), daß das im Augenblick allenthalben wütend zu hörende „Omikron macht aber nur milde Verläufe“ zu stark vereinfacht und schon lautes Rufen im Dunklen Wald zur Selbstermunterung darstellt. Mit der ganzen Argumentationskette oben denke ich, ja, Geimpfte und Genesene haben eine Immunantwort, die zu milden Omikron-Verläufen verhilft. Nein, Ungeimpfte haben das nicht und stehen voll im Risiko möglicher schwerer Verläufe. Mit klinischen Daten, die das sauber aufdröseln können, wird in 4 bis 6 Wochen zu rechnen sein.

Chapeau und danke für das Durchhalten bis hier. Manchmal muß es leider detailliert aufgeschlüsselt werden, auch um verständlich zu sein.

Und nochmal zurück zum Anfang: jetzt ist es vielleicht erkennbar, daß Spike-basierte Antigen- oder Antikörpertests mit der Auswahl der dafür benutzten Reagenzien stehen und fallen. Wer für einen Antigen-Nachweis durch dummen Zufall einen im RBD-Bereich bindenden Antikörper als Reagenz ausgesucht haben sollte, dessen Test ist in großer Gefahr, Varianten nicht nachweisen zu können. Umgekehrt kann man mit den richtigen Antikörpern gegen die nicht polymorphen Bereich von Spike absolut auch Varianten detektierende Tests bauen. Und bei Antikörpernachweisen ist es noch wichtiger, daß man vorher überlegt und auswählt, mit welch einem Teil von Spike mit welcher Sequenz man überhaupt arbeiten will, um die entsprechenden Antikörperpopulationen finden zu können: wie man da in den Test hineinruft, so schallt es aus ihm heraus.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (11.01.2022 01:12).

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