KarierterHut schrieb am 04.03.2021 09:41:
Und was ist der Hintergrund? Warum wird das gezahlt?
Hintergrund ist, dass die privaten Krankenversicherungen gewinnorientiert agieren und gar nicht erst so tun, als ginge es ums Solidarprinzip. Das führt dazu, dass die individuellen Tarife immer wieder neu an die Risikobewertungen der Versicherungsstatistiken angepasst und insbesondere Alte und/oder chronisch Kranke zu Beiträgen genötigt werden, die sie - obgleich in der Regel gutsituiert - teilweise nicht mehr aufbringen können. Der Staat sah da Handlungsbedarf, wollte u. a. verhindern, dass privat Versicherte einfach in die GKV wechseln, weil das zu unangenehmen politischen Debatten für die Versicherungswirtschaft führen könnte, nämlich zur Frage: Warum gibt es überhaupt private Krankenversicherungen neben der GKV, wo die doch offenkundig ein sozialpolitischer Skandal sind?
Soweit kann ich das grob ohne Recherche sagen, zu Einzelheiten müsste ich auch recherchieren.
In meinem Startbeitrag habe ich die absolute Summe und den Anteil der Schmarotzer überhaupt nicht angesprochen. Ich habe lediglich gesagt dass ich trotz der Absenkung des Niveaus keine Umverteilung von unten nach oben sondern von der Mitte nach unten (und nach ganz oben) sehe.
Was höflicher formuliert auf das Gleiche hinausläuft.
Denk bitte nochmal drüber nach, was Solidarprinzip meint.
Es meint dass
a) jemand der in Not gerät von der Gemeinschaft unterstützt wird und
b) dass sich jedes Mitglied der Gemeinschaft an der Unterstützung der Bedürftigen beteiligt und
c) jeder sich so verhält dass er die Gemeinschaft nicht unnötig belastet, was auf eine Eigenverantwortung hinausläuft
d) dass die Gemeinschaft festlegt wer als "bedürftig" bzw."bezugsberechtigt" gilt, z.B. in Bezug auf das Thema Rente.
In b) würde ich den Gemeinschaftsbegriff spezifizieren wollen: Gemeinschaft der Sozialversicherten, nicht etwa die Bevölkerung, weil Beamte und Soldaten nicht dazugehören und Gutsituierte nur, wenn sie das möchten
Zu c) würde ich darauf hinweisen wollen, dass das, was im konservativen und liberalen Diskurs Eigenverantwortung heißt, bei Marx im Zweifelsfall "doppelt freie Lohnarbeit" und "Ausbeutung" genannt wird. Im Extremfall läuft das Konzept von Eigenverantwortung sehr direkt auf eine zivilisiert-verschleierte Form von Sklaverei hinaus.
Zu d) würde ich darauf hinweisen, dass nicht die Gemeinschaft der Sozialversicherten die zentralen Regeln festlegt, sondern vor allem der Bundestag und durchaus auch gewichtig das BVerfG. Das ist nicht annähernd dasselbe.
Ansonsten würde ich darauf beharren, dass mein Befund, dass die Ausgabenseite der Sozialversicherungen wesentlich chaotisch funktioniert, für unsere Diskussion wichtiger ist. Daraus ergibt sich nämlich, dass die Einnahmenseite der Sozialversicherungen in keiner vernünftigen Beziehung zur Ausgabenseite stehen kann und deshalb andere Prinzipien der Konstruktion bedarf. Ich finde, dass unsere Diskussion untergründig von der Frage geleitet ist, was denn so etwas wie eine faire Konstruktion sein könnte. Daran hängt nämlich die Bewertung, ob wir eher von Umverteilung nach unten oder nach oben sprechen können/wollen.
Ich empfehle eher dies Grafik in diesem Beitrag:
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/577242/umfrage/einkommensteuer-beitrag-der-steuerpflichtigen-zum-gesamten-steueraufkommen-in-deutschland-nach-gruppen/
Die sagt aus dass 95% des Einkommenssteuer-Aufkommens von den oberen 50% bezahlt werden. Oder 2/3 der Steuern von den oberen 15%.
Vermutlich, weil ich in den vergangenen Tagen relativ häufig auf Statista-Seiten unterwegs war, versuchen die mir jetzt ein Abo oder zumindest eine Account-Anmeldung aufzudrücken. Finde ich eine Unverschämtheit, angesichts dessen, dass das eine staatliche Info-Bereitstellungs-Institution ist. Jedenfalls bin ich nicht dazu bereit, dort einen Account anzulegen und kann das Diagramm in deinem Link daher nur als nichtssagende Vorschau anschauen.
Ich gehe aber mal davon aus, dass das Diagramm ähnlich aussieht wie das in https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61772/einkommensteueranteile
Das passt jedenfalls zumindest grob ebenfalls zu deinen zusammenfassenden Angaben von wegen 95 % und 2/3.
Das bestreite ich auch nicht, weshalb ich nicht sehe, was wir daran diskutieren wollen.
Ich sehe daran vor allem, wie ungleich das Einkommen in der Gesellschaft verteilt ist. Was denn ja auch der Hintergrund dafür ist, warum es eben kein vernünftiges Steuer-Sozialversicherungssystem gibt, das sich irgendwie sachlich demokratisch legitimiert vorstellen ließe, sondern bloß über Medienmacht, Lobbyismus und sonstige Strippenziehereien eine angeblich demokratische Gesellschaft, die in Wirklichkeit auf allen Ebenen dem obersten Zehntausendstel gehört, jedenfalls dann, wenn es mal ernsthaft um irgendetwas geht und nicht bloß gespielt wird.
Ansonsten macht das Diagramm höchstens klar, dass wir uns nicht darin einig sind, was denn ein faires Finanzierungsverfahren für Staat und Sozialversicherungen wäre. Mir ist klar, dass meine Behauptung einer Umverteilung von unten nach oben über das Werkzeug des Sozialbudgets politisch voraussetzungsreich ist. Nichtsdestotrotz finde ich es für den Niedriglohnsektor völlig augenfällig und ansonsten zumindest einigermaßen klar aus dem GG ableitbar, insbesondere aus Art. 20 und 14, aber auch aus 1 bis 3 und 12.
Du spezifizierst unsere Differenz aber erstmal:
Zumindest dann, wenn du die Voraussetzung teilst, dass eine Progression im Steuer-Sozialversicherungssystem angemessen wäre, starke Schultern auch prozentual stärker die Lasten tragen sollten.
Das tun sie in absoluten Zahlen doch schon. Und auch prozentual werden sie stärker belastet, was sie an der leicht abfallenden grünen Kurve sehen.Hellroter und gelber Bereich verjüngen sich nach rechts, obgleich sie sich progressiv verdicken müssten. Grüner Bereich erreicht ein Plateau, obwohl er weiter sinken müsste.
Das "müsste" ist ihre persönliche Meinung, kein Naturgesetz. Praktisch zahlen diese Menschen, wie oben schon gezeigt, den Großteil der Einkommenssteuer, auch ohne noch stärkere Progression.
Das "müsste" bezog sich auf die Unterstellung, dass du "die Voraussetzung teilst, dass eine Progression im Steuer-Sozialversicherungssystem angemessen wäre, starke Schultern auch prozentual stärker die Lasten tragen sollten." Allgemeiner auf die Unterstellung, dass das Konsens innerhalb der politischen Gemeinschaft sein müsste. Das ist selbstverständlich kein Naturgesetz, aber auch keine irrwitzige Individualmeinung von mir. Andererseits ist mir völlig klar, dass es zu diesem Thema keinen Konsens gibt. Weil ich dich als offen für Argumente wahrnehme, interessiert mich an unserer Diskussion vor allem, inwieweit wir denn einen Konsens finden können - und inwieweit nicht.
Du ignorierst aber erstmal, dass es keine durchgängige Progression gibt, sondern nur Teilabschnitte mit Progression und ansonsten eine Menge Degression. Darauf hinzuweisen, verzerrst du zu einem Wunsch nach "noch stärkerer Progression". Das finde ich unsachlich.
Ich möchte daher dafür plädieren, dass wir erstmal bei den Wikipedia-Diagrammen verweilen, nochmal als Quelle genannt: https://de.wikipedia.org/wiki/Arbeitsentgelt#/media/Datei:Arbeitsentgelt_SV_LST_Anteile_Single_2015_bis_8000.svg und https://de.wikipedia.org/wiki/Arbeitsentgelt#/media/Datei:Arbeitsentgelt_SV_LST_Anteile_Paar_2015_bis_8000.svg, die https://de.wikipedia.org/wiki/Arbeitsentgelt#Steuern_und_Sozialabgaben zugeordnet sind.
Bei beiden Diagrammen gibt es keine leicht abfallende grüne Kurve mehr ab 6.000 Euro pro Monat, sie geht in Parallelität zur x-Achse über. Im Gegenteil sinken die rosaroten Bereiche oberhalb von 100 %, was heißt, dass die grüne Linie de fakto steigen würde, wenn wir das Diagramm so aufziehen würden, dass 100 % die Arbeitgeberanteile an den Sozialversicherungen enthalten würde. Das ist nichts anderes als Degression. Würden wir es so aufziehen, würde die Degression vermutlich etwa bereits ab 4.500 Euro sichtbar werden.
Blick in https://de.wikipedia.org/wiki/Jahresarbeitsentgeltgrenze zeigt, dass es auch nur etwas über 4.500 Euro Monatseinkommen sind, ab denen sich Arbeitnemer_innen in die privaten Krankenversicherungen verabschieden dürfen. Es ist sicherlich kein Zufall, dass diese Grenze ziemlich genau da angesetzt ist, wo ohnehin die Degression im Einkommenssteuer-Sozialversicherungssystem einsetzt, sondern von den interessierten Kreisen klar durchdacht.
Die massivste Progression hingegen findet im Sprung aus dem Minijob in den Midijob statt und dann halt abgespeckter für die Durchschnittslöhne bis 4.500 Euro.
Progression unten, Degression oben: Deshalb sagte ist, dass es eine Umverteilung nach oben gibt. Unter anderem deshalb. Denn diese Umverteilung findet ja z. B. auch über die Umsatzsteuer oder die Kapitalertragssteuer statt.
Wenn du aber selbstverständlich nicht die Voraussetzung teilst, dass wir eine Progression haben sollten, müssten wir uns erst einmal darüber verständigen, auf welche Prinzipien hinsichtlich Fairness des Steuer-Sozialversicherungssystems wir uns denn eigentlich verständigen könnten.
Sag mal an, ob du das wirklich noch tiefer in den Details mit Durchwühlen von Statistiken diskutieren möchtest ...
Nun, Statistiken können hilfreich sein, aber man kann sich da auch schnell verirren.
Ich habe Ihnen eine sehr einfache Statistik gezeigt. Vielelicht setzen wir an der an, fall Sie interessiert sind?
Ich habe mich nicht verirrt. Die Thematik ist nur sehr komplex, die statistischen Angaben hier und da auch widersprüchlich und nicht sonderlich günstig für mein Erkenntnisinteresse aufbereitet zu finden.
Was ich gerne hätte - und das schon ein paar Jahre, nicht erst im Rahmen unserer Diskussion - sind diese Diagramme bei Wikipedia, allerdings normiert auf 100 % mit Arbeitgeberanteil, dann noch meinetwegen in 3-D für alle Steuerklassen (und nicht nur bis x=8.000 Euro, sondern mindestens bis x=eine Million Euro laufend). Und vor allem möchte ich darin zusätzlich abgetragen haben, wie viele Personen sich eigentlich in welchem Bereich des Diagramms bewegen. Hätte ich so etwas, hätte ich dir deine Frage leicht beantworten können, ob ich das mal vorrechnen könne. Daran hatte ich gearbeitet, aber ich habe gerade wieder etwas die Lust daran verloren ... Vor allem wohl, weil ich sehe, dass das letztlich zu grob über den Daumen gepeilt bliebe und dennoch echt mühsam zusammenzutragen ist. M. E. sollte sich vielleicht tp da mal hinterhängen oder irgendein wissenschaftliches Institut. Allerdings habe ich gerade auch nicht die Hoffnung, dass das hier noch irgendwer liest außer uns beiden.