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  • sansculotte

mehr als 1000 Beiträge seit 16.09.2001

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VoltaireJunior schrieb am 27. Januar 2006 16:54

> Also mit der guten Alice muß man sowieso etwas vorsichtig sein. Die
> vertritt eine ziemliche Vulgär-Psychologie. Dieses "Am Anfang war
> Erziehung" mußt Du mal im Zusammenhang lesen mit Büchern wie "Drama
> des begabten Kindes". Bei der kommt alles aus der Unterdrückung durch
> die bösen bösen Eltern und das ganze liegt auf der 68er Linie des
> "Kampfes gegen den autoritären Charakter", den Adorno und die
> Frankfurter Schule anführten, um die Gesellschaften von innen heraus
> zu zerstören und den heutigen Neoliberalismus als Neokonservatismus
> vorzubereiten (die das orwellsche Gegenteil von echtem Liberalismus
> und Konservatismus sind). Da kommen dann natürlich leicht pauschale
> Sichtweisen zustande, die vor allem, wie alle Ideologien und Kirchen,
> psychologisch raffiniert mit Schuld operieren, um einen Keil in die
> Familie als solche zu treiben und sie so von innen heraus durch das
> Tugenddiktat der sogenannten "Selbstverwirklichung" zu zerstören. Das
> ist ihnen ja auch weitestgehend gelungen. Die "Selbstverwirklichten"
> landeten entweder im lähmenden Hedonismus und damit der Vereinsamung
> des Individuums, oder bei den Grünen und ihrem Führer-Opportunismus
> des Cohn-Bendit-Multikulti und der Kriegstreiberei für das
> Ami-Imperium, wie es ihr Heiland Fischer betrieb.

Entschuldigung schon, aber die Vulgär-Psychologie scheint eher von
deiner Seite zu kommen. Wenn du hier einen künstlichen Manichäismus
hochziehst, wenn du behauptest, Miller würde Eltern als "böse-böse"
pauschalisieren, dann ist dir leider entgangen, dass sie immer wieder
anmerkt, wie sehr auch diese Eltern eine repressive Erziehung
erfahren haben. Miller pauschalisiert nicht, sondern zeigt anhand von
exemplarischen Fällen die Konsequenzen bestimmter Einstellungen,
Ansichten und Gefühlshaltungen auf, deren Destruktivität sich auch in
der empirischen Forschung der 80er und 90er Jahre mehr und mehr
bestätigt hat. Mit keinem Wort beruft sie sich auf Adorno und die
Frankfurter und in einigen Passagen macht sie sogar darauf
aufmerksam, dass auch die sog. "antiautoritäre Erziehung" ein starres
Konzept darstellt und Elemente der Lieblosigkeit und Vernachlässigung
enthält. Adorno war -im Gegenteil- noch zu sehr in der Systematik der
Psychoanalyse verfangen, um in Millers Kritik eine Rolle zu spielen. 

Mir geht es nun nicht darum, Alice Miller eine Blankovollmacht
auszustellen, aber einige deiner Unterstellungen sind doch allzu
absurd. Schon ihr transparenter und gelegentlich spürbar wütender
Schreibstil macht klar, dass sie keine wie immer geartete "hidden
agenda" verfolgt. Die Abwendung von der Freud'schen Psychodynamik ist
in ihrer Entwicklung Buch für Buch nachvollziehbar und hat ihr
erhebliche Schwierigkeiten unter Kollegen und in der sogenannten
"Fachwelt" eingetragen. Nirgendwo findet sich bei ihr das von dir
behauptete "Schuldkonzept", ihr Konzept ist im Gegenteil die
Anwaltschaft für das Kind (und nicht die Bekämpfung der Eltern).

Du musst dir nun wirklich nicht die Mühe antun, die "Zerstörung der
Gesellschaft von innen heraus" durch angebliche
ideologisch-motivierte Angriffe auf die Familie an die Wand zu malen.
Für die Gewalt in der Gesellschaft sorgt schon die Familie selbst,
das, was in ihr gelebt und nicht gelebt wird, das, was in ihr
tagtäglich an Gewalt passiert. Die Propaganda der Konservativen, dass
die Familie die Keimzelle des Staates bildet, bewahrheitet sich auf
eine nahezu erschreckende Art und Weise: die in der Familie
vorherrschenden Gewaltverhältnisse setzen sich nämlich nahtlos in
Gesellschaft und Staat fort. Da braucht es keine Verschwörung von
sinistren Hedonisten und angeblichen "Selbstverwirklichern", da
genügt ein Blick auf das alltägliche Elend, das tägliche Leiden.

Ein wenig mehr Bodenhaftung wäre wünschenswert, ehe du die Familie
als höchsten Wert einsetzt. Dann würde dir nämlich auffallen, dass
sie ganz und gar kein Elysium, kein Quell ungetrübter Freude oder
Hort ewigen Friedens ist. (Und nie war, auch nicht vor
Neoliberalismus und Neoconnards -siehe zB Philippe Aries:Geschichte
der Kindheit oder zieh dir -x-beliebig- zB die Geschichte der Borgias
rein, der Romanovs, der Hannover, etc. usf. egal) Nimm dir mal ein
paar Statistiken über Gewalttaten und das Naheverhältnis von Täter
und Opfer vor, über Vergewaltigung, Körperverletzung und
Alkoholismus. Sobald du nur ein wenig an der Tünche kratzt, wird dir
jeder zweite über einschlägige Erfahrungen im Familienkreis
berichten.

Und die persönlichen Erfahrungen all dieser Menschen wirst du wohl
nicht ernsthaft als "pauschale Sichtweisen" von ideologisch
verbrämten "Selbstverwirklichern" abtun wollen, oder?

gutn8
s

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