Das Beste, was ich zum Thema Angst gelesen habe, lautet:
"Dann wird seine (Anm.:das Kind) durch eine größere neutralisiert und die Angstverarbeitung insgesamt geschwächt. Es bleibt dem Kind nur der Weg in die Verdrängung und Verleugnung der Angstreaktion; es kann nicht üben, seine Ängste zu fühlen[...]"
Das Prinzip, dass eine Angst von einer größeren "neutralisiert" (also überlagert, gelayert, verstärkt und unterdrückt, usw.) wird und dabei gleichzeitig "die Angstverarbeitung insgesamt geschwächt" (also sowohl die aushaltbare Summe an Ängsten als auch die Bewältigungsfähigkeit, der Abfluss von Ängsten reduziert) wird.
Ich kämpfe immernoch mit einer korrekten sprachlichen Modellierung.
Die von Ihnen benutzte Metapher des "Angstpegels" ist vielleicht das, was dem Mechnismus der Angst am Nähesten kommt - Wenn die Boxen übersteuert werden und der Pegel des Synthesizers bis an Maximum schlägt, dann knarzen die Boxen zukünftig und das Pegelmaximum sinkt. Aber es fühlt sich doch irgendwie unvollständig an...es ist jedenfalls mehr als nur ein überlaufendes Fass.
Ansonsten teile ich Ihre Auffassung, was den Autor betrifft und möchte an den Fall Selen Göres erinnern. Was für existenzielle Ängste muss der drohende Verlust des vertrauten sozialen Umfeldes hervorbringen, damit solche Texte geschrieben werden?
Da "die Gesellschaft dem Menschen wie eine Naturgewalt gegenübertritt" (Zitat), dürfte die Angst aus der Gesellschaft verbannt zu werden, nicht weit entfernt von der Todesangst sein, welches ein Kind hat, das von seinen Eltern - am übelsten noch weil es Angst hat - geschlagen wird. Ob dann die berüchtigte Angst vor der Angst der alleinige Mechnismus ist, der zur zukünftigen reduzierten Angstverarbeitungskapazität beiträgt, bin ich mir nicht sicher.
Allgemein möchte ich auch etwas zum Problem der Rationalisierung sagen.:
"Was reden Sie so gescheit daher. Dass sie so gescheit daher reden, zeigt doch wie verrückt Sie sind." (Zitat).
Es wird gerne von psychologisch Gebildeten der Vorwurf der Rationalisierung erhoben. Die angeblich tatsächlichen Gründe für ein Verhalten lägen auf emotionaler Ebene in der Kindheit und würden nachträglich mittels Logik und 'Vernunft' zu gesellschaftlich akzeptierten Gründen "rationalisiert".
Beides sind Immunisierungsstrategien.
Es wird die Immunisierungsstrategie der Rationalisierung (bspw. zwecks Verdrängung von Ängsten) des Individuums diesem vorgeworfen - nicht erklärt, besprochen, analysiert - durch die Gesellschaft (bzw. durch die Psychologie), welche eine ebensolche Immunisierungstrategie zwecks bspw. Angst vor Machtverlust/sozialen Zusammenhalt nutzt.
Das Argument der Rationalisierung ist in der Psyocholgie/-analyse wissenschaftstheoretisch hochproblematisch, da es damit ein dogmatischen, 'allerklärenden' Ansatz (übirgens wie die Kirchen früher) verfolgt.
Das ganze versuche ich mal an einem Coronabeispiel zu demonstrieren:
"Ich habe heldenhaft bis zur lezten Minute gewartet, bis ich mich habe impfen lassen, weil gemäß der Devise "Frauen und Kinder zuerst" den Risikogruppen den vortritt ließ. Oh, wie ich diese Feiglinge, die sich gleich als erste die Impfung erschlichen hatten, verachte. Und nein, ich verbitte mir die Unterstellung, dass ich lediglich abgewartet hätte, um das nebenwirkungsärmste Präparat zu wählen."
Wo finden wir hier eine Rationalisierung? Oder wäre das Verhalten etwa rational?
Eben...