Wenn Sie kein Problem darin sehen, dass immer mildere Formen von Problemen heutzutage schon schwere Diagnosen nach sich ziehen können und mit welcher Selbstverständlichkeit z.B. Antidepressiva oder Psychostimulanzien massenweise verschrieben werden, dann kann ich daran nichts ändern.
Das ist ein Strohmannargument. Ich habe sehr wohl Probleme damit, dass schwere psychische Störungen mit unangenehmen, aber nicht krankheitswertigen Alltagsproblemen in einen Topf geworfen werden. Zudem halte ich nicht viel davon, dass sie mir den schwarzen Peter dafür zuschieben, dass sie nicht wirklich überzeugend argumentieren.
Es ist eine übliche Strategie in solchen Diskussionen, der psychosozialen Perspektive die allerschwersten Fälle entgegenzuhalten
Und das ist auch gerechtfertigt, da diese Fälle mit der "psychosozialen Perspektive" nicht erklärt werden können, aber dennoch eingeschlossen werden. Da frage ich mich, ob sie analog zur Pharmaindustrie handeln, nämlich Alltagsprobleme mit "echten" psychischen Störungen vermengen um damit, zu Lasten der wirklich Kranken, ihre "psychosoziale Perspektive" zu stützen.
Interessanterweise lassen sich aber auch solche schweren Fälle in der Regel nicht auf Gehirnprozesse zurückführen.
Hängt wohl davon ab wie hoch man die Messlatte hängt. Für eine Beteilligung von Gehirnprozessen sprechen meines Erachtens Befunde struktureller und funktioneller Bildgebung und die Induzierbarkeit vieler psychischer Störungen oder zumindest sehr ähnlicher Symptome durch direkte Einwirkung auf das Gehirn, etwa durch Drogen oder Hirnschädigung.
Allerdings kann man sich natürlich fragen, wie eindeutig bildgebende Befunde sein können, wenn sich in einem Voxel Hunderttausende von Neuronen befinden. Womöglich sind heutige Techniken nicht geeignet die physiologischen Ursachen von psychischen Störungen lückenlos nachzuweisen. Selbst bei organischen Psychosyndromen scheinen MRTs allein oft keine eindeutige Diagnose zuzulassen. Daraus kann man aber nicht ableiten, dass psychische Störungen psychosoziale Probleme sind. Dies muss genauso lückenlos und stringent nachgewiesen werden, wie für biologische Ursachen gefordert wird. Und da gibt es von psychologischer Seite ein riesiges Gefälle zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
Und ich denke, dass auch die Patienten mit den schwersten Problemen etwas davon hätten, wenn man sie nicht als Menschen mit "kaputten Gehirnschaltkreisen" (das ist, was manche führende Psychiater wortwörtlich sagen) brandmarken würde, sondern als extreme Fälle eines Spektrums, das uns alle betrifft.
Als "extreme Fälle eines Spektrums, das uns alle betrifft"? Was ist das denn für eine Aussage? Mir fallen sofort eine Reihe von körperlichen Erkrankung ein, die man auch auf diese Weise definieren könnte, obwohl da eindeutig was kaputt ist. Beispielsweise ist Blindheit auch ein extremer Fall eines Spektrums (Fehlsichtigkeit), das alle betrifft.
Aus Patientensicht bin ich jedenfalls den "kaputten Gehirnschaltkreisen" eher zugeneigt, weil sie näher an der Realität zu sein scheinen und die Erkrankung nicht verharmlosen.
Und auch für schwere Symptomatiken gilt wahrscheinlich in den meisten Fällen, dass diese auch stressreaktiv sind – und da kann man eben psychosozial darauf einwirken.
Selbst wenn das stimmen würde, muss das nicht automatisch bedeuten, dass Stress die Symptome auch aufrechterhält, zumal chronischer Stress bekanntermaßen neurotoxische Effekte haben kann.