Eine hervorragende Darstellung des Feldes und der Problematik psychischer Perturbationen. Herzlichen Dank dafür.
Bezüglich des praktischen Umgangs damit müsste man vielleicht die Notwendigkeit einer vorgängigen gründlichen somatischen Abklärung explizit betonen, die sicherstellt, dass keine falschen Schlüsse gezogen und etwas übersehen wird.
Zentral wichtig erscheint mir der Hinweis auf die soziale Dimension, die in unserer extrem aufs Individuum fixierten Kultur zwar nicht gänzlich unter den Tisch fällt, aber doch kaum je wirklich ernstgenommen wird. Gerade heute veröffentlicht der MoA-Blog eine Bemerkung zur Alterskohorten-Verteilung spitalpflichtiger C-19-Patienten in Lateinamerika und Indien. Unter 60-, ja unter 50-jährige sind in diesen Ländern massiv stärker vertreten, als etwa in Europa. Einen Erklärungsansatz dafür liefert er nicht mit. Ich vermute, dass das mit dem schlechteren allgemeinen Gesundheitszustand der Bevölkerung dieser Länder zu tun hat. Die Lebenswelt ist harscher, die staatliche Daseinsvorsorge vergleichsweise minimal.
Die neoliberale Radikalisierung des Kapitalismus hat global zur Ausbildung einer hypermaterialistischen Kultur geführt, eine Entwicklung die die sozialen Vertrauensreserven in der Gesellschaft nach und nach aufzehrt. Im lateinamerikanischen Umfeld ist das besonders ungebremst, soziale Bindungen werden schwächer, der geldwerte Vorteil wird zum überragenden Kriterium für alle persönlichen Entscheidungen, die Vereinzelung, Vereinsamung nimmt überhand. Dies geht dann parallel mit der Schwächung der Resilienz gegenüber gesundheitlichen Störungen, und eben auch des psychischen Befindens. (Verstärkt wird dies u. a. durch schlechte Ernährung, daraus resultierendes massives Übergewicht, Hypertonie etc.)
Es ist anzunehmen, dass die Qualität der Beziehungen im unmittelbaren lebensweltlichen Umfeld - Familie, Freunde, Bekannte - eine wichtige Rolle spielt, aber darüber hinaus eben auch diejenige sozialer Interaktion überhaupt, bei der wiederum der Vertrauenspegel massgebend ist. Wenn ich beim Einkauf in einem Laden, beim Umgang mit Arbeitskollegen oder dem Chef grundsätzlich jederzeit damit rechnen muss, in irgendeiner Form übervorteilt zu werden, kommt das einer ständigen Frontstellung gleich, die sehr viel psychische Energie kostet.
Und schliesslich mag es noch eine überwölbende Ebene geben, die ebenfalls nicht zu unterschätzen ist. Im globalen Staatenverband gibt es eine klare Hackordnung. Als Bürger eines schlecht angesehenen Staates - ein Shithole, wie Tronald es drastisch auf den Punkt brachte - geht man immer schon mit einem Handycap ins soziale Bedeutungsrennen. Das Gefühl, eine Bedeutung zu haben, im kleinen und grösseren Rahmen eine respektable Position innezuhaben, ist ebenfalls ein relevanter Faktor für die psychische Belastbarkeit.