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  • morgen Stern

988 Beiträge seit 03.10.2015

Fülberth suspendiert systemische Krise

TomGard (1) schrieb am 12.05.2021 15:34:

Danke für den "Armbrecher"- Link, den ich den Mitlesern ans Herz lege.

Aber warum "Zombie" und warum "Schein-Kapitalismus"?

Ich reiche den Dank mal an Fefe durch, der mich letztens darauf aufmerksam machte: https://blog.fefe.de/?ts=9e9944f0

Zombie und Schein beziehen sich wohl darauf, dass der Armbrecher-Kapitalismus weniger an Rendite aus aktueller Mehrwertproduktion interessiert ist als an Rendite aus vergangenen Kosten der Ware Arbeitskraft: Die aus den von Wagenknecht so schmerzlich vermissten goldenen Wirtschaftswunderjahren entstandenen kleinbürgerlichen Kleinvermögen werden vom Kapital wieder zurückgefordert. Das Übliche: Den Preis der Ware Arbeitskraft über das unmittelbar Existenznotwendige auszudehnen, fand das Kapital ja schon immer Diebstahl an dem, was rechtens nur ihm zusteht. Soweit ich sehe, ist das ja die einzige echte Message des Neoliberalismus: Dieser Diebstahl muss restituiert werden wie die Eigentumstitel aus NS-Zeit in der Post-DDR. Aus Sicht der Kleinbürger_innen sieht das aber halt wie Zombieunwesen aus: Kapitalismus frisst seine Kinder. Und Schein, nun ja, die olle Kamelle, dass das raffende Kapital nur dann seinem Begriff gerecht werde, wenn es sich auch als schaffendes betätige. Nehme ich mal an - ohne den Text jetzt nochmal erneut gelesen zu haben.

Junge Welt hat gerade einen knappen historischen Abriss von Fülberth mit der Leitfrage, ob Krise gerade suspendiert oder systemisch werde:
https://www.jungewelt.de/artikel/401992.ausbeutungssystem-im-wandel-verändert-aus-der-krise.html

Ich las Fülberth immer gern, lockerer Stil, große Überblicke schnell hinskizziert, dennoch ziemlich profund wirkend. In diesem Fall bin ich mir nicht so sicher, vielleicht wird er alt. Tenor scheint mir zu sein, dass wir seit 15 Jahren wieder mehr Richtung Staatskapitalismus gehen. Das steht auch deiner Analyse eher entgegen, sehen wir jetzt mal vom Militär ab.

Ich kann mir nicht helfen, aber das Resümee liest sich irgendwie, wie sich FAZ-Leser_innen vermutlich wünschen würden, aber selbstverständlich an ein marxistisches Publikum gerichtet:

Kehren wir zu unserer Ausgangsfrage zurück und versuchen, sie vorläufig zu beantworten: Falls die Rolle des Staates wieder wächst, die »Märkte« sich etwas weniger austoben können, die öffentliche Infrastruktur erneuert und ausgebaut werden kann, eine Umweltkatastrophe entweder durch »Green Engineering« hinausgeschoben oder gestoppt oder durch »Greenwashing« verschleiert wird, dürfte die gegenwärtige Krisenserie wohl doch auf Dauer nicht durch eine Suspension, sondern durch eine neue innerkapitalistische Transformation beendet werden. Mehr nicht.

Gut, aktuelles Geschehen zu analysieren, ist ja auch schwierig, so viel Keimendes noch unausgegoren, so viel Blindheit uns schlagend. Sonderbar erscheint mir aber, dass ich auch beim letzten Absatz in "Militär- und Zivilkeynsianismus" stutze:

Mit dem Ende der Rekonstruktionsphase um 1970 erschöpfte sich der Zivilkeynesianismus. Die zeitweilige Stärke der Gewerkschaften hatte die Profiterwartungen gedämpft, und eine daraus resultierende Investitionszurückhaltung hatte das Wachstum gehemmt. Kapital wich aus der Produktions- in die Zirkulationssphäre aus. Erleichtert wurde dies durch das Ende des Systems von Bretton Woods. 1971 wurde die Bindung des US-Dollars an das Gold, 1973 an die Währungen der anderen kapitalistischen Länder aufgehoben. Damit ist das Geld zu einer Ware für ständige Spekulation an den Börsen geworden. Kapital wurde so der produktiven Arbeit und der Auseinandersetzung mit den starken Gewerkschaften entzogen und statt dessen an den Finanzmärkten eingesetzt. Damit hatte das Kapital eine geringere Nachfrage an Arbeitskraft, was eine steigende Arbeitslosigkeit zur Folge hatte. Schwindende Kaufkraft der Lohnabhängigen senkte die Warennachfrage und verursachte durch neue Überakkumulation von Kapital wieder einmal eine systemische Krise: beginnend Ende 1974, voll entfaltet dann 1975.

Vielleicht liegt's nur am Stil seiner groben Skizzen, aber mir scheint das hier analytisch so verkürzt, dass es falsch wird. Das Außenhandelsvolumen D-Lands hat sich laut
https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Aussenhandel/Tabellen/gesamtentwicklung-aussenhandel.pdf?__blob=publicationFile
zwischen 1970 und 2020 fast um den Faktor 20 vermehrt, die Inflation hingegen wohl so um den Faktor 3. Das wird schwerlich bloß nur an Währungsspekulationen liegen. Die Integration des Weltmarkts nahm zu, damit auch Verlagerung industrieller Arbeit aus den kapitalistischen Zentren insbesondere nach Asien und andere Peripherie. Global stieg die Nachfrage nach Arbeitskraft deutlich, europäische Massenarbeitslosigkeit verschleiert da bloß eurozentrisch den Blick. Fülberth müsste das eigentlich auf dem Zettel haben.

Gibt's eigentlich irgendwo Zeitreihen-Aufbereitungen der Weltwirtschaft so wie meinereiner das haben möchte? Also z. B. unterteilt gemäß trinitarischer Formel und Wachstum unterteilt nach Kosten der Ware Arbeitskraft und Mehrwert in Form von Kapitalreproduktion einerseits und meinetwegen Luxuskonsum andererseits? Die quasi einzige, quellenlose Zeitreihe, die ich zum Luxuskonsum jetzt bei längerer Suche im Netz auftun konnte, reicht bloß bis 1990 zurück, deutet aber zumindest darauf hin, dass das Segment deutlich stärker als das globale BIP steigt:
https://www.visualcapitalist.com/charting-the-rise-and-fall-of-the-global-luxury-goods-market/

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