blu_frisbee schrieb am 12.05.2021 20:37:
morgen Stern schrieb am 12.05.2021 19:41:
Mir ist allerdings auch unklar, was "die Wertkritik" eigentlich sein soll.
https://de.wikipedia.org/wiki/Wertkritik
verortet da wesentlich bloß die Krisis, stellt die mir jetzt weniger bekannten Teile der Neuen Marx-Lektüre dem als Kritiker gegenüber und hängt sich bloß an der mir völlig überbewertet erscheinenden, modischen Frage auf, ob das Proletariat revolutionäres Subjekt sei. Das leuchtet mir kaum ein, Reichelt und insbesondere Backhaus z. B. erscheinen mir aus systematischer Sicht viel wertkritischer als z. B. Kurz, der das aber rhetorisch und historisch prägnanter zu fassen wusste. Naja, diese ewigen Dispute zwischen Volksfront von Marx und Marx'scher Volksfront halt ...
Wertkritik ist Robert Kurz, krisis, Konicz. Die erwarten daß Kapitalismus von selber kollabiert.
https://de.wikipedia.org/wiki/Neue_Marx-Lekt%C3%BCre ist Michael Heinrich, Backhaus, Reichelt.
WGHaug bietet da eigene Ansichten (mit Kritik an Harvey)
https://www.youtube.com/watch?v=K1s9k88bBhA#2:02:56_Haug_Kapital_lesen
Mir Theorie-Blabla über Youtube reinzuziehen, bekomme ich nicht im Ernst hin, was auch ein wenig technische Gründe hat: Die alten Öddel-Boxen am PC sind so leise und meine Ohren auch einfach nicht die besten, so dass die Glotze der Frau im Nebenraum schon zu viel Störgeräusch ist. Ist aber auch eine Frage der Konzentration: Text gibt mir die Möglichkeit, meiner eigenen Geschwindigkeit zu folgen, Video/Audio geben Geschwindigkeiten vor. Ich weiß deinen guten Willen zu schätzen und vielleicht ist es ja auch für andere hier interessant, aber für mich ist das nix.
Deine beiden "ist" nach Wertkritik und NML erscheinen mir prekär: Das wird von irgendwelchen Leuten so unter einen Hut gepackt, teilweise sicherlich auch von den genannten Akteur_innen selbst. Gut, ich bin schon ein Jahrzehnt im Prinzip raus aus all diesen Debatten und kann auch sicherlich nicht behaupten, dass ich da jeden Text von allen Akteur_innen kennen würde, aber grob würde ich doch sagen, dass diese Bestimmung aus dem NML-Wiki-Eintrag für sie alle gemeinsam gilt:
Die neue Marx-Lektüre verwirft prämonetare Theorien des Wertes, nach denen bereits die einzelne konkrete Arbeit wertschöpfend sei, und sich die Wertsubstanz direkt aus der verausgabten Arbeitszeit ergebe.
Ich sehe da insofern eher die Gemeinsamkeiten. Umgekehrt könnte ich, wenn ich mich jetzt noch gut genug erinnern würde, lange Essays darüber verfassen, wo z. B. schreiende Differenzen zwischen Backhaus und Heinrich liegen.
Was ich irgendwie persönlich gerade sonderbar finde: Die drei von dir genannten NML-Autoren habe ich alle, wenn auch flüchtig in (quasi-)akademischen Kontexten, persönlich kennengelernt, die von dir genannten Wertkritiker hingegen nicht. Ich frage mich, ob das was mit meinem Urteilen macht. Von Reichelt fand ich in seinem allerletzten Uni-Semester vor Emeritierung die theoretischen Live-Erwägungen eher etwas lahm, glorreich aber, dass er selbstironisch sinngemäß, wenn auch sicher mit anderen Worten so etwas sagte wie, dass seine akademistische Lebensweise, verdammt zu gesellschaftlicher Wirkungslosigkeit bei gleichzeitig elaborierter Kritik an den eigenen Gefängnisgittern, ja irgendwie gänzlich kindlich-verrückt sei. Das war irgendwie ein sehr sympathischer Augenblick: Gegen Ende des Berufslebens konnte er nicht anders, als sein mehr oder weniger ausgelebtes ungelebtes, falsches Leben zu unterstreichen. So etwas habe ich sonst in Uni-Kontexten nirgends erlebt. Das hat eine gewisse Ähnlichkeit zu der Distanz, mit der du letztens sagtest, dass Schleim seinen Namen vermarktend popularisieren möchte.
Bedingungsloses Grundeinkommen und möglichst noch bedingungsloses Wirtschaftseinkommen erscheint mir noch immer als der beste Pfad, der dorthin führen könnte, weil es den Sprung dorthin qualitativ bereits machen würde (Befreiung vom Zwang zur Arbeit, stattdessen Freiheit zu Tätigkeit), bloß quantitativ noch nicht im vollen Maß (Eigentum bleibt grundsätzlich unangetastet, wenn auch selbstverständlich massiv zur Finanzierung des Grundeinkommens gesellschaftlicher Regie unterworfen).
Aber wo kommts her? Insbesondere, da Arbeit "ewige Naturnotwendigkeit".
Euinkommen ohne Klassen?Freu mich daß jmd auf dieser theoretischen Höhe diskutiert.
Ich wiederhole jetzt mal nicht, was ich dir vermutlich zu grenzüberschreitend dann und wann mal stonedrunk an Sentimentalitäten zuraunte ... halte das mal floskelhaft: Ganz meinerseits.
Die bGE-Szene meint ja, sie könne über Experimente beweisen, dass die Leute auch dann arbeiten, wenn sie ein bGE bekommen. Das ist zwar methodisch verrückt, weil es einen Unterschied macht, ob Gesamtgesellschaft von bGE durchdrungen ist oder nur eine zeitlich befristete Experimentalgruppe, aber es ist dennoch ein nachvollziehbarer Ansatz, weil die Sklaven mit der Macht, mit der sie ihre Ketten spüren, glauben, niemand würde mehr irgendeinen Finger krümmen, wenn die Ketten der Sklaverei gesprengt würden. Das ist einfach Unsinn: Menschen sind soziale und tätige Wesen und ziehen große Befriedigung daraus, wenn sie etwas gerissen bekommen, insbesondere wenn sie etwas für andere gerissen bekommen.
Dennoch wäre die Einführung eines bGE riskant: Möglich, dass die Gesamtgesellschaft kollabiert. Bloß: Das macht keinen Unterschied zum Kapitalismus, bei dem ja bekannt ist, dass er in Krisenzeiten kollabiert. Ich plädiere da schlicht für Urvertrauen: Das würde klappen.
Finanzierung über Steuergelder sehe ich nicht, selbst in D-Land wäre das Umverteilungsvolumen bei ein bis zwei Drittel des BIP. Wir werden uns niemals auf eine Steuerreform einigen können, die so etwas leistet - mal jetzt ganz abgesehen davon, dass ja keine der Parteien im Bundestag das irgendwie ernsthaft in Erwägung ziehen würde.
Ich habe hier bei tp immer mal wieder meinen Finanzierungsvorschlag zu betonen versucht, aber darauf springt niemand an: Ausschüttung von inflationsresistentem Zentralbankgeld, Inflationsresistenz gemessen mit Warenkorbmethode, Warenkorb möglichst komplex und in Echtzeit erfasst, Hyperinflationierung des Geldes in Kauf nehmen und als Herausforderung für die Unternehmen akzeptieren, notwendig selbstverständlich eine digitale Währung.
Ich glaube, irgendein tp-Beitrag hat mich letztens über
http://cluborlov.blogspot.com/2021/03/getting-hyperinflation-right.html
stolpern lassen. Abgesehen davon, dass bGE da kein Thema ist (und ich ja außerdem noch ein bedingungsloses Wirtschaftseinkommen drauflegen wollen würde), habe ich mich gefragt, ob der die Idee von meinen tp-Beiträgen geklaut haben könnte.
Vermutlich nicht, in Zeiten von Nullzinspolitik und Quantitative Easing drängt sich der Gedanke einfach allgemein auf. Meine Interpretation ist, dass in diesen Zentralbankpolitiken Marx' Augenblick dämmert, in dem die Produktivkräfte mit den Produktionsverhältnissen so sehr in Konflikt geraten, dass eine neue Geschäftsordnung her muss. Et voilá: bGE wäre eine solche.
Nun bin ich ja konstitutiv kosmopolitisch gesinnt und denke viel eher an den Weltmarkt als an die deutschen Kleinbürger_innen. Ich will das selbstverständlich nicht bloß für D-Land oder die EU, sondern global. Meine Hoffnung ist, dass sich die KP der VR China Leute leistet, die tp-Foren checken und irgendwer dort denkt: Hm, die Idee ist so verrückt, dass sie funktionieren könnte. Bündelt sich der wohlfahrtsstaatliche Impuls zum bGE innerhalb der EU mit dem transhumanistischen des silicon valley und einem kommunistischen aus der VR China - und das im Angesicht zunehmend absurder werdender Krisenhaftigkeit der Finanzsphäre -, dann sollte da doch ein Weg für ein globales bGE gangbar sein, scheint mir.