Obwohl ich Giorgio Agamben nie gelesen habe, denke ich, dass er mit seiner im Artikel zitierten Prognose recht hat, dass »das Zeitalter der bürgerlichen Demokratien endgültig zu Ende« gehen wird, auch wenn man die anschließende Herrschaftsform vielleicht noch Demokratie nennen mag.
Langfristig sprechen für diese These schon die technologischen Möglichkeiten, sobald sie einmal voll ausgereift sind; man denke nur an vollautonome Fahrzeuge im Straßenverkehr oder an die früher für unmöglich gehaltenen Erfolge von Computerprogrammen gegen Menschen in vielen verschiedenen Strategiespielen mit unterschiedlich ausgeprägter Zufallskomponente, etwa im Schach oder Backgammon. Politik ist auch nichts anderes als ein hochkomplexes Strategiespiel mit der Zielvorgabe, das Gemeinwohl zu maximieren; verhaltensbezogene Bevölkerungsdaten werden hierfür bereits mehr als genug erhoben. Über die Operationalisierung des Gemeinwohls gelangt man dann schnell zu unstrittigen Variablen wie Sicherheit oder Gesundheit, während über die Relevanz individueller Freiheiten überraschend geringer Konsens besteht, wie die Reaktionen auf die Pandemiemaßnahmenpolitik der letzten Jahre zeigen; Freiheit scheint vielen verzichtbar.
Als maskentreuer Ungeimpfter war ich zwar auf keiner Demo, habe aber unter der 2G-Regelung (https://www.br.de/nachrichten/wissen/corona-was-die-2g-regel-gebracht-hat,TTIt6Ks), eine Art Lockdown für minderblütige Gewohnheitsgefährder, zweifellos etwas gelitten. Meine blutsmäßige Minderwertigkeit ließ ich mir im Juli 2020 und im Oktober 2022 via SARS-CoV-2-Antikörpertest ECLIA von Roche zweimal von meiner Hausärztin bestätigen. Wie Agamben erinnerte natürlich auch mich der allgegenwärtige Brunnenvergiftungsvorwurf seitens der deutschen Politik und der Medienberichterstattung gelegentlich an das gesellschaftliche Klima in den frühen 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts, doch an Diskriminierungserfahrungen kann man schließlich auch wachsen.
Jedenfalls hatte ich Politik und Medien geglaubt, auf zwar menschenverachtende Weise, so doch wenigstens aus guten Motiven heraus möglichst viele Menschenleben retten zu wollen, allerdings möchten genau dieselben Verantwortlichen jetzt nur kurze Zeit später zur Verteidigung der zuvor noch zweitrangigen Freiheit möglichst viele Menschen in einem Krieg töten, was schließlich nicht zusammenpassen kann. Irgendetwas kann an der politisch gelebten Verfassungswirklichkeit nicht mehr stimmen, wenn sich die Begründung für Krisenbewältigungsmaßnahmen so radikal ändert.
Beiden Krisen gemeinsam ist die Ausblendung der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes; Menschen wirken als bloße Mittel zur Erreichung politischer Zielvorstellungen, die Gemeinwohl nur noch würdeunabhängig interpretieren. Mal werden Menschen gegen ihren Willen isoliert und etwa Hochbetagte entgegen palliativmedizinischen Grundsätzen zu unwürdigen Lebensumständen gezwungen, mal werden im Ausland gerade Jüngere mit falschen Freiheitsversprechen und auch deutschen Waffen in den Tod geschickt. Kritik an dieser Politik gilt rasch als Verrat an der neuen, im Kern totalitären Gemeinwohlvorstellung, nach der Individualität dem Kollektivinteresse schade.
Vielleicht liegt die Hoffnung trotzdem in der Technik, denn mich würde inzwischen interessieren, welche Krisenbewältigungsstrategien ein lernfähiges Computerprogramm anbieten könnte. Sind dessen Ideen besser, könnte man es regieren lassen – und sich demokratische Wahlen sparen?